Weimar - die Tiefe der Zeit

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Zum Goethejahr: ein Wunder von einem Photoband.

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Zum Goethejahr: ein Wunder von einem Photoband.

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Goethe-Enkel Walther sagte nach dem Tod seines Großvaters: "Weimar ist eine gesunkene und versunkene Stadt." Der Großvater hatte noch stolz verkündet: "Gott grüß euch Brüder, sämtliche ONER und ANER! Ich bin Weltbewohner, bin Weimaraner." Eine kunstsinnige, aufgeschlossene Fürstin, Anna Amalia, und ihr Sohn hatten mit Goethe und Schiller, Wieland und Herder und einer Schar weniger Berühmter Weimar zu einem Magneten für ganz Deutschland und darüber hinaus gemacht.

Auf die Rolle als geistige Hauptstadt Deutschlands folgten andere: Der Komponist Franz Liszt machte das Städtchen Mitte des letzten Jahrhunderts zum Zentrum der modernen Musik. Unter Walter Gropius erlebte die Architektur einen Schub in die Moderne. 1919 gab sich die junge Republik im deutschen Nationaltheater ihre "Weimarer" Verfassung.

1937 bauten die Nationalsozialisten acht Kilometer von der Stadt entfernt das Konzentrationslager Buchenwald, in dem 56.000 Häftlinge elend zugrunde gingen, gefoltert, erschossen, gehängt oder durch Arbeit vernichtet. Und nach dem Ende des Kriegs übernahmen die Sowjets das Lager. Bis 1950 waren die Insassen tatsächliche oder vermeintliche Nazifunktionäre, denn die Denunziation blühte ...

In diesem Jahr feiert Weimar die 250. Wiederkehr von Goethes Geburtstag, und die Stadt hat die Ehre, sich 1999 Kulturstadt Europas zu nennen.

Die deutsche Photographin Ute Klophaus erhielt 1998 die Einladung, Weimar mit ihren Augen, ihrer Kamera zu sehen. Zweimal verbrachte sie drei Wochen in der Stadt, einmal im Sommer, dann im Winter. Das Ergebnis ihres Schauens, der Photoband: "Weimar: Ein Mythos", ist ein Wunder. Frau Klophaus ist das Gegenteil des rasenden Reporters, des berufsmäßigen Hektikers. Sie nähert sich auf leisen Sohlen: "Man schlägt nicht aufs Wasser vor dem Angeln." Ihr Zeugnis für Weimar ist getragen von kritischer Sympathie: "Ich wurde gefragt, was mich am meisten beeindruckt. Ich sagte: ,Das alte Pflaster. Das Pflaster am Herderplatz, das liebe ich, wenn die Sonne darüber scheint, im Gegenlicht. Es ist die Basis der Stadt. Es ist wie eine Grundmauer ...' Es ist alles so dicht in Weimar. Man kann überall zu Fuß hingehen. Es ist ein dichtes zeitliches Nebeneinander, aber auch ein dichtes räumliches Nebeneinander."

Das alte Pflaster: Goethe hatte als Wegebauminister dem Morast in den Straßen durch Pflasterung ein Ende gemacht. Heute werden alte Pflastersteine aus allen Teilen Thüringens nach Weimar gekarrt, um den häßlichen Asphalt zu ersetzen. Am Anfang des Buches findet sich ein Photo, auf dem sich die Pflastersteine so hoch türmen, daß die Häuser dahinter zu verschwinden scheinen. Fünf Millionen Besucher werden 1999 in Weimar erwartet. Individualisten, die den Rummel scheuen, sollten sich Frau Klophaus zu einer Stadtführung anvertrauen, von Goethes Gartenhaus-Idylle bis hin zum Schrecken von Buchenwald. Die Photos sind in Schwarzweiß gehalten, mit vielen Abstufungen in Grau, die ihnen Tiefe verleihen.

Weimar ist eine Stadt von Denkmälern, Büsten, feierlichen Pferdeleibern aus Metall. Goethe hatte sein Haus am Frauenplan mit Skulpturen, Bildern und Mineralien gefüllt. Die Photographin schafft etwas Unheimliches: Steinerne Figuren scheinen sich zu bewegen, so lebendig ist das Spiel von Licht und Schatten eingefangen; windgepeitschte Pappeln kontrastieren seltsam mit festen Gebäuden aus Stein.

"Die Photographie hat schon seit geraumer Zeit davon Abschied genommen, nur Garantieerklärungen für das Reale auszustellen", schreibt Bernd Kauffmann, der Intendant der Weimar 1999-Kulturstadt Europas GmbH. Er hat recht: Was tausendmal schon abgelichtet wurde, wird durch den künstlerischen Blick, den ungewöhnlichen Ausschnitt neu, frisch, fremd, geheimnisvoll.

Ute Klophaus hat zum Beispiel Goethes Wohnhaus bei Nacht eingefangen, und man glaubt, Kafka hätte ihr Auge gelenkt. Er stand ja tatsächlich vor dem Haus am Frauenplan und zählte die Fenster ... Goethes Sterbezimmer: hunderttausendfach in kitschigen Farben auf Postkarten festgehalten. Schwarzweiß erhält das schmale Bett seine Würde zurück, wie auch Schillers Schreibtisch oder die primitive Kochstelle in Goethes Gartenhaus. Sein Arbeitszimmer, von dem Friedrich Hebbel sagte, es sei "das einzige Schlachtfeld, auf das die Deutschen stolz sein dürfen", ergreift in seiner spartanischen Einrichtung ebenso wie ein Bild der Fürstengruft, in der Goethe und Schiller neben ihrem Herzog ruhen: Geist und Macht friedlich vereint. Frau Klophaus erzählte mir, im KZ Buchenwald sei sie in den Todeskeller hinabgestiegen, wo Menschen an Fleischerhaken aufgehängt worden waren. Von unten photographierte sie die Treppe. Ihre Kamera taumelte ...

Und dann das Weimar der Gegenwart in seinem Restaurierungseifer, der längst noch nicht jeden Winkel erreicht hat. Noch immer gibt es bröckelnde Fassaden, Mauerrisse, Hauswände, die wie eine vom Aussatz befallene Haut aussehen. Daneben das touristenbedienende Weimar: Souvenir-Auslagen mit Goethe-Büsten, Goethe-Büchern, Goethe-Postern. Dem eigentlichen Kitsch ist die Künstlerin aus dem Weg gegangen. Längst wissen wir, daß objektive Photographie eine Fiktion ist, daß das Objektiv des Photographen niemals objektiv sein kann. Ute Klophaus hat eine Balance gefunden zwischen sachlicher Wiedergabe des Vorgefundenen und eigenwilliger Sicht. In ihren Bildern entsteht Distanz zu allzu Vertrautem, schlagen die Dinge die Augen auf.

Weimar. Ein Mythos. Photographien von Ute Klophaus. Herausgegeben von Roman Soukup. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 1999. 216 Seiten, 136 Abb. in Duplex, öS 496,/E36,05. Ausstellung der Photographien im Haus der Kunst in München täglich 10-22 Uhr, bis 27. Juni 1999.

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