Wellness in der Big-Brother-Gesellschaft

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Gesellschaftliche Umwälzungen gehen immer auch mit der Entstehung neuer Sozialisationstypen einher, die etwa die Psychotherapie vor neue Herausforderungen stellen. DIE FURCHE sprach mit dem Wiener Psychoanalytiker August Ruhs über die psychosozialen Bedingungen des aktuellen "Kollektivcharakters“.

DIE FURCHE: Worin besteht das Unbehagen in der gegenwärtigen Kultur?

August Ruhs: Im Jahr 1930 diagnostizierte Sigmund Freud in seiner kulturkritischen Schrift "Das Unbehagen in der Kultur“, dass Kultur immer Triebverzicht ist und eingeschränktes Genießen das Unbehagen bewirkt. Heute und unter den Bedingungen eines radikalen Kapitalismus mit uneingeschränktem Wachstumsstreben befinden wir uns in einer fast konträren Verfassung: Das Unbehagen resultiert nicht aus einer Repression, sondern gewissermaßen aus dem Gebot, grenzenlos zu genießen. "Du musst genießen“ ist an die Stelle eines "Du darfst nicht genießen“ getreten. Das erzeugt in den westlichen Gesellschaften ein neues Unbehagen, das durch Übersättigung geprägt ist. Zudem führt das Genießen-Wollen oft zu einer fragwürdigen Anhäufung von Genussobjekten, die nicht verbraucht werden können. Die Kehrseite des Genusszwangs ist der Anhäufungszwang als Immer-mehr-Genießen-müssen, wobei das eigentliche Genießen erst recht verhindert wird.

DIE FURCHE: Welche gesellschaftlichen Umwälzungen sind für dieses Unbehagen verantwortlich?

Ruhs: Den Ausgangspunkt der heutigen Situation sehe ich am Ende des 19. Jahrhunderts, als sich der Niedergang einer patriarchalen Gesellschaft abzeichnet, die Emanzipation der Frau in den Vordergrund rückt und die industrielle Revolution voranschreitet. Der Nationalsozialismus mit seinem Führerkult kann dann als Versuch verstanden werden, über die Diktatur den "Männlichkeitsverfall“ aufzuhalten, während die dazu auch in Beziehung stehende 1968er-Bewegung eine antiautoritäre, "ödipale“ Rebellion darstellt. Sie blieb allerdings in der Mitte der 1970er Jahre stecken und mündete in den viel beschriebenen narzisstischen Sozialisationstyp. Zwei Jahrzehnte später beschrieben Kulturtheoretiker den aktuellen postmodernen Sozialisationstyp, geprägt durch die telematische Revolution und die Errichtung einer Big-Brother-Gesellschaft mit ihren virtuellen Autoritäten.

DIE FURCHE: Inwiefern kann man heute auch von einer "Wellness-Gesellschaft“ sprechen?

Ruhs: Wellness zielt auf körperbezogenes Glück. Die verstärkte Körperbezogenheit beginnt in den 1970er Jahren, der französische Philosoph Jean Baudrillard schreibt in dieser Zeit viel über die "Rückkehr des Körpers“. Darin lässt sich bereits ein direktes Glücksversprechen erkennen, das auf die Verheißung eines genießenden Körpers hinausläuft. Wellness oder andere Techniken der Körperbearbeitung sollen dazu führen, den Körper zu vervollkommnen und zu optimieren. Darin steckt auch ein neoliberales Moment, eine Form von "Gewinnstreben“, das auf Körperlichkeit, Emotionalität oder Spiritualität ausgerichtet sein kann und Beschränkungen nicht hinnehmen will. Die Psychoanalyse hingegen geht immer davon aus, dass der Mangel inhärent und dass niemand perfekt ist. (mt)

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