Weltliterat als Meisterreporter: Beobachtungen im Jahr 1898

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Wie ein berühmter Korrespondent politische Turbulenzen des Wiener Fin de Siècle fürs US- Publikum aufbereitete.

Ein gewisser Reporter namens Samuel Langhorne Clemens lebte fast zwei Jahre lang - vom September 1897 bis zum Mai 1899 - in Wien. Der US-Amerikaner war nicht nur ein Journalist von Gnaden, sondern ein ebensolcher Literat - Weltliteratur schrieb er unter seinem Pseudonym Mark Twain. Dass er während seines Aufenthaltes in der Hauptstadt der Donaumonarchie Teile seiner Autobiografie verfasste, mag den Literaturhistoriker fesseln. Für den Zeit- und Mediengeschichtler sind es aber Mark Twains Reportagen aus dem Herbst 1897, die sich heute wie ehedem spannend lesen. Unter dem Titel "Stirring Days in Austria“ wurden die Aufregungungen im Wiener Reichsrat, also dem Parlament des österreichischen Teils der Habsurgermonarchie, Anfang März 1898 im New Yorker Harper’s New Monthly Magazine veröffentlicht.

Mark Twains Wiener Beobachtungen nun auf Deutsch

Bislang sind die ebenso treffenden wie scharfzüngig wiedergegebenen Beobachtungen Mark Twains nicht auf Deutsch erschienen. Auch in den deutschsprachigen Werkausgaben des umfangreichen Œuvres von Twain sucht man sie vergebens. Der Wiener Metroverlag und Übersetzer Rudolf Pikal schließen verdienstvollerweise diese Lücke: Die Beschreibungen der "Turbulenten Tage in Österreich“ sind nämlich nicht nur ein Meisterstück journalistischer Prosa, sondern auch ein unersetzliches historisches Dokument, das die Anfänge des Parlamentarismus hierzulande ebenso unbestechlich durchleuchtet wie die gesellschaftliche Stimmung jener Zeit.

Zurzeit findet ja bekanntlich einmal mehr eine Auseinandersetzung über die Ära Karl Luegers in Wien statt. Die Reportagen Mark Twains aus dem Reichsrat bieten dazu köstliche wie beklemmende, kurz: für sich sprechende Facetten an: Grassierender Antisemitismus, klerikales Agieren, parlamentarisches Hickhack von Tätlichkeiten - wie man sie zuletzt etwa im ukrainischen Parlament sah - oder auch die Wiener Version des Filibustering in Form einer zwölfstündigen Rede des Abgeordneten Dr. Lecher beschreibt Mark Twain. Der christliche Antisemit Lueger stritt mit dem antiklerikalen und noch viel übleren Antisemiten Karl von Schönerer - und am Ende jener "Turbulenten Tage“ stürzte die Regierung des Grafen Badeni über die Auseinandersetzungen rund um deren Verordnungen zur Verwendung der deutschen und tschechischen Sprachen in Böhmen und Mähren.

Auch der interessierte Zeitgenosse weiß ja wenig über die damaligen Vorkommnisse. Die journalistische Ambition, mit der Mark Twain da heranging, weist ihn auch als Meister-Reporter aus.

Turbulente Tage in Österreich

Von Mark Twain. Aus dem Amerikanischen übertragen und kommentiert von Rudolf Pikal.

Metroverlag 2012. 96 Seiten, geb., e 12,-

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