Wem kann man trauen?

19451960198020002020

Geht unsere Gesellschaft daran zugrunde, daß man kaum noch jemandem uneingeschränkt vertraut?

19451960198020002020

Geht unsere Gesellschaft daran zugrunde, daß man kaum noch jemandem uneingeschränkt vertraut?

Werbung
Werbung
Werbung

Der Spitzenpolitiker - mutmaßlich ein Lügner und Seitenspringer, der hohe Kirchenmann - möglicherweise ein Heuchler und Kinderschänder, der hohe Beamte oder der Gutachten liefernde Experte - vielleicht korrupt, die Sportskanone - vermutlich gedopt, Erfolgsmenschen in Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft - wahrscheinlich Steuerhinterzieher und Egoisten, die für Geld und Karriere über Leichen gehen. Liegen solche Beurteilungen in Kenntnis der auf uns Tag für Tag einströmenden Nachrichten nicht nahe? Wem soll man denn da noch vertrauen?

Zu einer so negativen Einstellung neigt man heute vielleicht besonders, sie ist aber keineswegs neu. Schon Johann Nestroy verkündete im 19. Jahrhundert: "Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich habe mich noch selten getäuscht." Zweifel am guten Charakter der Menschheit hat es zu allen Zeiten gegeben - übergroßes Vertrauen war stets gefährlich, eine Prise Mißtrauen meist ratsam. Nestroys Zeitgenosse Friedrich Hebbel formulierte es so: "Wer damit anfängt, daß er allen traut, wird damit enden, daß er jeden für einen Schurken hält."

Der durchschnittliche Bürger wird weder allen trauen noch jeden für einen Schurken halten, aber dort, wo ihm Mißtrauen geboten erscheint, Vorsichtsmaßnahmen treffen. Die Binsenweisheit "Vertrauen ist gut - Kontrolle ist besser" löst freilich nicht alles, denn alles kann keiner selbst kontrollieren - und wer kontrolliert dann wirksam die Kontrollore? Muß man denen nicht wieder vertrauen? Stehen wir in unserer Zeit des rasanten Wandels nicht nur vor der Wahl, den Experten auf den unterschiedlichsten Gebieten - von der Atomphysik bis zur Gentechnik, von der Bibelauslegung über die Ökonomie bis zur Humanmedizin - ihre Aussagen gutgläubig abzunehmen oder diese, zumal sich auch die Experten selten einig sind, mit Argwohn zu betrachten?

Während laut Umfragen die Angst vor der Zukunft dramatisch ansteigt, belehrt uns der Trendforscher Matthias Horx, daß das Zeitalter der Egoisten anbricht. Ist das nicht logisch? Ist nicht die Existenzangst zugleich auch ein Aufschrei, daß man niemandem mehr vertrauen kann, weil man überall nur auf ihren Vorteil bedachte Egoisten am Werk sieht und vor lauter Mißtrauen auch gleichzeitig selber leicht und schnell zu einem solchen wird? Sind nicht immer mehr zerrüttete und geschiedene Ehen, aber auch die Abkehr von den Kirchen und christlichen Werten dramatische Signale? Schwindender Glaube an Gott, schwindende Treue in der Partnerschaft, schwindendes Vertrauen auf allen Ebenen menschlichen Zusammenlebens - sollte es da wirklich keinen Zusammenhang geben?

Doch ohne ein Minimum an Vertrauen ist jede Beziehung, ist jedes Gemeinwesen zum Scheitern verurteilt, zurück bleiben menschliche Inseln, die ängstlich Dämme um ihre Landeplätze errichten und dennoch enorm gefährdet sind, in der ersten Sturmflut im Meer der Verzweiflung unterzugehen. Wird das nicht auch in jeder akuten Krise deutlich, wenn als erstes nach "vertrauensbildenden Maßnahmen" gerufen wird?

Vertrauen läßt sich freilich nicht verordnen, es müßte vom Kindesalter an erlebt werden und immer wieder Bestätigung erfahren. Wurde es empfindlich gestört, und das trifft auf viele Geschiedene und vor allem auch auf Scheidungswaisen sicher zu, so kann es, wenn überhaupt, nur mit größter Mühe wiederhergestellt werden.

Sprücheklopfer Echtes Vertrauen ist der bedingungslose Glaube an die Verläßlichkeit des anderen, die sichere Überzeugung des Hochseilartisten, sein Partner werde ihn im richtigen Moment auffangen. Ein Kind, dessen Vertrauen mißbraucht wurde, ist mit einem abgestürzten Artisten vergleichbar, es ist innerlich zutiefst verletzt.

Vertrauen hat nichts mit gleicher Meinung oder gleicher Weltanschauung zu tun. Mitunter haben die größten politischen Gegner mehr Zusammenhalt bewiesen als enge Parteifreunde. Wer dem anderen klar zu verstehen gibt, woran man bei ihm ist, der ist in der Regel verläßlicher als ein unverbindlicher Sprüche- und Schulterklopfer.

Gegen wenige Probleme unserer Zeit könnte der einzelne so viel machen wie gegen die Krise des Vertrauens. Er müßte nur die Einsicht gewinnen und möglichst auch umsetzen: Jeder ist nicht nur für sich verantwortlich, sondern auch für die anderen, hat punkto Vertrauensbildung Vorbildfunktion. Wer Kinder zu erziehen hat, als Lehrender oder als Elternteil, spürt diese Verantwortung sehr deutlich. Sie trifft aber letztlich jeden.

Sie trifft vor allem auch die Medien und ihre Konsumenten. Möglicherweise fallen uns die Schwachstellen an Personen, denen man früher schon aufgrund ihres Ranges fast blindlings Vertrauen entgegengebracht hätte, heute nur deshalb mehr auf, weil wir in einer Welt leben, in der sich fast nichts mehr verheimlichen läßt. Die Medien decken anscheinend früher oder später nahezu jeden Skandal auf. Sie erschüttern oft zu Recht das Vertrauen in den Charakter vieler Mächtiger. Sie haben aber auch durch viele Unkorrektheiten längst ihre eigene Glaubwürdigkeit erschüttert. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in Politiker und Journalisten dürfte im wesentlichen gleich schlecht sein. Wem ein Klima des Vertrauens ein Anliegen ist, der kann und wird dazu selbst einiges beitragen: indem er selbst Vertrauen erweckt und rechtfertigt und indem er andere unterstützt, die seiner Meinung nach Vertrauen verdienen - seriöse Personen, seriöse Institutionen, seriöse Medien. Friedliche und gedeihliche Lösungen für die Probleme der Gesellschaft sind sicher eher einem Zeitalter des Vertrauens als einer Ära der Egoisten zuzutrauen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung