Weniger wert als Schildkröten

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Um der Sowjetunion einst keinen Machteinfluss im Indischen Ozean zu lassen, wurden die Bewohner von Diego Garcia vertrieben und die Insel zu einem US-Militärstützpunkt ausgebaut. Der Kalte Krieg ist lange vorbei - die Insel bleibt aber besetzt, und die Tschagosianer vegetieren in Armut im aufgezwungenen Exil.

Am Anfang stand eine Lüge, danach kamen brutales "Massenkidnapping am eigenen Volk" (Washington Post), Verbannung, Heimweh, Depressionen, Selbstmorde, sozialer Abstieg, Armut, Sucht, Prostitution, Verfolgung und Ausgrenzung - 40 Jahre lang, bis heute.

Wäre es nach den Wünschen der britischen und amerikanischen Militärs gegangen, hätte die Vertreibung der Inselbewohner von Diego Garcia sogar verhindert werden können. Die Strategen, die nicht zulassen wollten, dass der Westen mitten im Kalten Krieg seine Stellungen im Indischen Ozean verliert, wünschten sich eigentlich das Aldabra-Atoll nördlich von Madagaskar als Stützpunkt, heißt es in einem bbc-Report. Doch auf Aldabra leben die letzten Exemplare von seltenen Riesenschildkröten. Tierschützer protestierten, befürchteten, dass Fluglärm und Kriegsschiffe die Tiere in ihrem Brutverhalten stören könnten - und das Veto wurde gehört und akzeptiert. Diego Garcia wurde als Ersatz gewählt, weil dort lebten bloß rund 2000 Tschagosianer - auch das eine seltene Spezies, aber eben doch nur Menschen.

"Nur Tarzans und Freitags"

Auf diesem Felsen im Meer gibt es "ausschließlich Seemöwen", heißt es in einem Brief des britischen Außenministeriums - und weiter: "Unglücklicherweise leben mit diesen Vögeln ein paar Tarzans und Freitags von obskurer Herkunft, die hoffentlich bald nach Mauritius verfrachtet sind." Dieser von vorne bis hinten erlogene Brief, der die bis ins 18. Jahrundert zurückreichende Kultur und Geschichte der Tschagosianer auf Diego Garcia unter den Tisch fallen lässt, datiert mit dem 24. August 1966 - genau 40 Jahre später hausen die mittlerweile rund 5000 Tschagosianer nach wie vor in erbärmlichen Zuständen in den Slums von Mauritius' Hauptstadt Port Louis.

"Wir konnten uns nicht in die Gesellschaft in Mauritius einfügen und uns wurde auch keine Chance dazu gegeben - wir sind immer unerwünschte Fremde geblieben", sagt Olivier Baincoult, Vorsitzender der Tschagos-Flüchtlinge-Vereinigung auf Mauritius im Gespräch mit der Furche (siehe auch das Interview auf Seite 3). Baincoult ist 1968 im Alter von vier Jahren nach Mauritius gekommen: Seine Schwester war schwer verunfallt, und Baincoults Mutter suchte mit ihren Kindern das Krankenhaus in Port Louis auf - umsonst, die Tochter stirbt; nach der Beerdigung, als die Familie wieder in ihr Zuhause auf Diego Garcia zurückkehren will, wird sie am Hafen zurückgeschickt: Die Insel ist aus militärischen Gründen gesperrt, heißt es: für immer - danach hat seine Mutter eine Woche lang geweint, erzählt Baincoult.

Die Vertreibung der Tschagosianer war generalstabsmäßig geplant: Nicht nur die Baincoults mussten Diego Garcia aufgrund fehlender ärztlicher Hilfe verlassen - das medizinische Personal der kleinen Inselspitäler wurde systematisch von den britischen Kolonialherren abgezogen. Außerdem kauften die Briten die Kokosnussplantagen und die Anlagen zur Erzeugung von Kopra (zerkleinerte und getrocknete Kokosnusskerne) und berauben die Tschagosianer damit ihrer wirtschaftlichen Lebensgrundlage; als schließlich keine Versorgungsschiffe mehr die Häfen des Archipels anlaufen und Hungersnöte ausbrechen, suchen selbst die Unerschütterlichsten ihr Heil in der Flucht.

Die Hunde vergast

Einen besonders schauerlichen Aspekt dieser Säuberungspolitik beschreibt ein Guardian-Artikel: In dem Beitrag wird Lizette Tallatte, damals eine junge Tschagosianerin, heute bald 70 Jahre alt, zitiert. Sie erzählte der englischen Zeitung, dass die Hunde auf der Insel in riesige Kopra-Trocknungsöfen gesperrt und mit den Auspuffgasen amerikanischer Militärfahrzeuge vergast wurden.

Im Herbst 1971 holt die "ms Nordvaer" das letzte Grüppchen Tschagosianer am Pier von Diego Garcia ab - seither wird dieser Hafen nur mehr von Kriegschiffen angefahren. Ende April 1973 ist der gesamte Archipel menschenleer. Proteste der uno kontern die Briten, indem sie die Tschagosianer als "Leiharbeiter" hinstellen, die nur zeitweise auf diesen Inseln gelebt hätten. Erst jüngst veröffentlichte Dokumente des britischen Außenministeriums belegen, dass damals mit Duldung von oberster Regierungsstelle, die ganze Welt belogen wurde - "über die Grenzen jeglichen Anstands hinaus", meint Justice Gibbs, ein mit dem Fall betrauter Richter. "Wir versuchen gar nicht, das, was in den 1960er und 1970er Jahren vorgefallen ist, zu verteidigen", zeigt sich auch das heutige Außenministerium in London reumütig - an eine Rückkehr der Tschagosianer wird deswegen trotzdem nicht gedacht.

Nur wenige Habseligkeiten haben die Vertriebenen mitnehmen dürfen - arm treffen sie auf Mauritius oder den Seychellen ein, aus dieser Armut werden sie nicht mehr herauskommen. Die erst nach gut zehn Jahren von der britischen Regierung ausbezahlten Entschädigungen (3000 Pfund pro Person) reichen oft nicht einmal, um die Schulden zu tilgen, das Elend geht weiter.

Alkohol, Drogen, Prostitution

In der ersten Zeit im ungeliebten Exil finden die ungeliebten Neuankömmlinge Unterschlupf in verlassenen Dockgebäuden und Viehställen. Es häufen sich die Selbstmorde, mehr als zwei Dutzend Familien - Eltern und Kinder - verhungern sogar. Heute, berichtet der Schweizer Autor Christian Schmidt aus Mauritius, leben besser gestellte Tschagosianer in kleinen Betonhäusern, die anderen weiterhin in Wellblechhütten, ausgegrenzt von den Mauritiern, zu fünft in einem Raum, ohne Wasser, nicht wissend, womit sie das Brot für die nächsten Tage kaufen sollen. Schmidt: "Fragt man jüngere Frauen nach ihrer Tätigkeit, so lachen sie verlegen und schweigen. Fragt man Männer, so senken sie die Köpfe. Den Frauen bleibt die Prostitution, den Männern die Arbeitslosigkeit. Alkohol und Drogen sind oft der einzige Ausweg aus der Realität. Olivier Bancoult hat zwei Brüder an die Sucht verloren."

Als Kind hat der spätere Elektriker Bancoult seiner Mutter die Rückkehr in die Heimat versprochen - im Jahr 2000 gewinnt er den Prozess gegen die Kolonialmacht. Mit der Deportation der Tschagosianer hat England sowohl gegen seine Magna Charta als auch die uno-Menschenrechtskonvention verstoßen, urteilen die Richter. Bis auf Diego Garcia, das weiterhin militärisches Sperrgebiet bleibt, dürfen die Vertriebenen auf die 64 restlichen Inseln zurück - theoretisch, denn Großbritannien weigert sich, die Rückkehr finanziell zu unterstützen: "Zu teuer", heißt es von Regierungsseite. "Schwachsinn!", entgegnet Robert Bain, Vorsitzender der britischen Tschagos-Unterstützer-Vereinigung: "Für die Besiedelung der Falkland Inseln wird ein Vielfaches an Geld ausgegeben." Die usa wollen keine Menschen in der Nähe ihrer Militärbasis, nennt Bain gegenüber der Furche als eigentlichen Grund für die britische Weigerung: "Denn für unsere Regierung sind die Beziehungen zu den usa wichtiger als die Pflichten gegenüber den eigenen Bürgern."

"Wir werden gewinnen!"

Nach weiteren Berufungen der britischen Regierung hat der Oberste Gerichtshof in London im Mai dieses Jahres die Unrechtmäßigkeit der Vertreibung der Tschagosianer neuerlich bestätigt. Doch Tony Blairs Regierung geht wieder in Berufung, aber auch Olivier Bancoult gibt nicht auf, bleibt dem Versprechen an seine Mutter treu: "Wir lassen nicht zu, dass dieses große Verbrechen weiterhin aufrecht bleibt, die Welt verändert sich, wir werden gewinnen."

Vor wenigen Monaten setzt London eine "humanitäre Geste": Hundert Vertriebene dürfen für zwei Tage - die Nacht müssen sie auf Schiffen verbringen - zurück auf ihre Inseln: "Das war eine Wallfahrt für mich, jetzt kann ich sterben", sagt die 80-jährige Rita Issou, "ich habe noch einmal meine Heimat gesehen."

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