Wenn das überhaupt alles stimmt

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„100 Prozent Wien. Eine statistische Kettenreaktion“: Die bei den Festwochen uraufgeführte Produktion von Rimini Protokoll zählt nicht unbedingt zu den künstlerisch stärksten der deutsch-schweizerischen Gruppe – sie lebt in erster Linie von der Interaktion mit dem Publikum.

Die Wiener Festwochen waren für mich immer sehr abstrakt“, so Gerd Peter Furlic, einer der 100 Repräsentanten von „100 Prozent Wien. Eine statistische Kettenreaktion“. Aber nicht nur die Festwochen bleiben für manche abstrakt, die Statistiken über Wien markieren ihre Bewohner ebenso abstrakt in Säulen, Tortenstücken oder Kurven.

Die deutsch-schweizerische Gruppe Rimini Protokoll (Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel) – bekannt dafür, mit „Experten des Alltags“ zu arbeiten – hat in ihrer dokumentaristischen Theaterproduktion ein Projekt entwickelt, das – wie kein anderes – zur persönlichen Identifikation einlädt: 100 Personen werden für vier Abende so etwas wie die temporäre Volksvertretung Wiens und repräsentieren die Stadt mit ihren 52 % weiblichen, 48 % männlichen Bürgern, von denen 81 % über eine österreichische Staatsbürgerschaft verfügen, 7 % aus Ex-Jugoslawien stammen, 5 % aus dem EU-Ausland, 2 % aus der Türkei und 4 % eine sonstige Herkunft haben.

Die konkreten Zahlen sind allerdings nicht nur abstrakt, sie korrigieren und relativieren auch Vorurteile oder von politischen Parteien inszenierte Stimmungsbilder, man denke nur an den ehemaligen FPÖ-Slogan „Wien darf nicht Istanbul werden“, der nicht nur angesichts der Statistik lachhaft ist, sondern auch mit Blick auf die moderne Metropole am Bosporus.

Fischer Karl, 77, verheiratet …

Rimini Protokoll konstruiert nun im Auftrag der Festwochen eine Realität von Wien, in der die Zahlen Gesichter, Geschichten und Meinungen bekommen, die sich genauso voneinander unterscheiden, wie eben keine Biografie einer anderen gleicht. Die Idee dazu wurde bereits im Jahr 2008 mit „100 Prozent Berlin“ realisiert, was nun im Vergleich interessant erscheint: Rotziger seien die Berliner gewesen und einkommensschwächer, so Helgard Haug im Publikumsgespräch.

In der Halle E im MuseumsQuartier begrüßt der einzige Darsteller, der tatsächlich von Rimini Protokoll ausgesucht wurde: Der 26-jährige Martin Thomas Pesl, der vier Jahre für die Statistik Austria gearbeitet hat, steht an der Rampe und erzählt von seinen Telefonbefragungen, deren Ergebnisse mit einem sicheren, gar nicht so geringen Prozentsatz an Zufallsfluktuationen der Masse berechnet werden müssen, etwa wenn ein hochbetagter Interview-Partner auf die Frage seines „File sharing“-Verhaltens ein abwesendes „Ja, ja“ gibt. In der Performance machen die Kinder diesen Aspekt durch ihr unberechenbares Laufen, Spielen und Tanzen deutlich und zeigen, dass statistische Kontrollen letztendlich doch nur begrenzt möglich sind.

Nach und nach kommen die restlichen 99 % von Wien und stellen sich in wenigen Sätzen vor: „Ich bin der Fischer Karl, 77 Jahre, verheiratet, mein Erkennungszeichen ist eine Bierflasche und ich habe meine Nachbarin mitgebracht.“ So funktio niert nämlich die Zusammensetzung der Gruppe: Jeder Ausgewählte schlägt wieder eine Person vor, die dem Schema entspricht, sodass am Ende als 100. Teilnehmer gerade noch ein Witwer aus dem 21. Bezirk gesucht – und nicht gefunden – wird. Also vertritt ein Ehemann aus dem 12. Bezirk den fehlenden Repräsentanten und zeigt damit, dass auch das Authentische am Ende wieder Fake werden kann. – Wie möglicherweise die Antworten, die einer Statistik entsprechen müssen und bisweilen über die für das Publikum nicht sichtbaren Obertitel an die Performer eingeblendet werden.

„Schau ma amoi“

Die Idee der eineinhalbstündigen Personeninstallation geht von den Fragen aus, die die Masse einmal nach links, nach rechts oder gestaffelt bewegen. Auf einer grünen Drehbühne werden die Repräsentanten, die sich als geometrische Masse formieren, aber zunehmend zu Individuen. Aus den anfänglichen zwei Gruppen, alternativ in „Ich“ und „Ich nicht“ geteilt, wird das wienerische „Schau ma amoi“ dazugenommen und situativ erweitert. Eine Kamera vergrößert die Entscheidungen der Wiener und projiziert sie in der Vogelperspektive auf die runde Leinwand. Das Lebendige und Interessante an dieser künstlerisch nicht unbedingt stärksten Produktion von Rimini Protokoll entwickelt sich aus der Interaktion mit dem Publikum, das sich auf Nachfrage immerhin mit über 50 % vertreten sah. Ständiges Raunen, zustimmendes Lachen oder erstaunte Empörung macht die Zuseher von Beginn an zu Komplizen, Mitspielern, die jederzeit auf die Bühne springen und mitmachen können. Denn in einem solchen Entwurf kann kaum etwas schiefgehen: Bei 100 Personen verschwinden Fehler, Schwächen oder Lücken in der Masse, die von Rimini gut choreografiert und witzig, klug und politisch hinterfragt wird. Darin liegt dann auch die eigentliche Leistung, so etwa, wenn die Frage „Wer sieht sich täglich die Statistik Austria an?“ nur eine einzige Bejaherin findet, die im Mikrofon erläutert, dass sie gegenüber dem Gebäude der Statistik Austria wohne … In der Folge überraschen oder bestätigen die Antworten den eigenen Blick: Erstaunlich viele Personen waren bereits Opfer von Gewalttaten, viele übten selbst Gewalt aus, erlebten Kriege, 50 % glauben an Gott, eigentlich recht wenige mussten vaterlos aufwachsen oder waren gar inhaftiert. Wenn das überhaupt alles stimmt, denn wer hat an dem Abend nicht gelogen?

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