Wenn die Türken in Europa stehen …

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… dann ist es für Christen an der Zeit nachzudenken. Wenig hilfreich wird es allerdings sein, in der Defensive zu verharren und der alten Vormachtstellung nachzutrauern.

Nach Jahrhunderten sind die Türken endlich über Wien hinausgekommen. Sie stehen jetzt in der Schweiz, zumindest sieht das offenbar die Mehrheit der Eidgenossen so. Ob die neue Gefechtslage des christlichen Abendlandes die Wiener beruhigt, wird der Wahlkampf zeigen.

Was Religionssoziologen seit einiger Zeit analysieren, wird gegenwärtig offenkundig: Die Deprivatisierung der Religion findet nun auch in Europa statt. Religion ist keine Privatsache, das ist nur der Glaube; sie ist vielmehr ein öffentliches Problem. Aber die Logik ist umgedreht: Nicht mehr sucht eine öffentliche Religion den Zugriff aufs Private, das war das Religionsmodell der Kirchen, sondern lange privatisierte Religionsanschauungen wie jene der Minarettverbieter suchen den öffentlichen Raum, um dort kompromisslos auf andere Religionen zu treffen. In dieser bürgerlichen Suche nach Randale geht es um gefühlten und um tatsächlichen Aufstieg und Abstieg.

Der Islam hat erkennbar den Habitus einer Aufsteigerreligion angenommen. Gerade an der Türkei ist das erkennbar. War sie früher der „kranke Mann am Bosporus“, so ist sie heute ein Tigerstaat auf Europas Schwelle. Während Christen in Indien, Nigeria und Korea aufsteigen, fühlen sie sich in Europa auf dem absteigenden Ast. Und wie eine gefühlte Kälte meistens noch kälter wirkt, als sie tatsächlich ist, so ist auch dieses Gefühl des religiösen Absteigens besonders schmerzlich und prekär. Schließlich standen Christen in Europa über 1500 Jahre lang als die Aufsteiger schlechthin da. Das galt selbst dann noch, als sie sich in Glaubenskriegen und Theologenscharmützeln zerfleischten. Gegenüber den „Türken“, dem Islam und gegen die Juden war man sich immer einig. Und der Export der eigenen Religion in die Kolonien sorgte für weitere Erfolgserfahrungen.

Religiöse Aufsteiger und Absteiger

Religiöse Aufsteiger wie religiöse Absteiger orientieren sich an denen, die ganz oben stehen. Das ist ein unausweichlicher Habitus in einer offenen, mit den feinen Unterschieden konkurrierenden Gesellschaft. Nur, wer sind religiös die ganz oben? Da gibt es eine bunte Palette von Angeboten. Der Papst sagt, ganz oben stehe das alte, mit Jerusalem versöhnte Athen aufgrund nicht relativierbarer Ideale. Der Moskauer Patriarch sagt, oben könne nur stehen, wer einen unmittelbaren Zugang zum staatlichen Machthaber besitzt. Der Feuilleton-Zeitgeist sagt, oben steht ein modernisierter Buddhismus, weil der nicht so machtverliebt und machtverloren auftritt. Die US-Fundamentalisten stellen die Freiheit in Gottes Auftrag nach ganz oben, weil sie das Evangelium von der Freiheit des Kapitals in die ganze Welt trägt. Für Esoteriker steht das pastellgetönte Gefühl der Einsheit mit dem Universum oben. Die katholischen Fundamentalisten reservieren das Oben für immer und ewig dem imperialen, christlich gewordenen Rom. Wahrscheinlich werden am Ende jene am meisten Erfolg haben, die dem eigentlichen Kaiser unseres Äons, der globalen Ästhetik des Geldes, aufs Schönste gelegen kommen, oder jene, die ihm aufs Schärfste widersprechen.

„Habt keine Angst!“

Wer auch immer sich durchsetzen wird: Europa wird sich dem Phänomen der public religions nicht entziehen können. Wer durch die Freiheit des Kapitals globalisiert ist und zugleich Religionsfreiheit aktiv vertritt, kann den öffentlichen Praktiken all der vielen Religionen, die aufsteigen wollen, nicht ausweichen. Aber bisher haben die europäischen Christen keine wirkliche Antwort auf ihren gefühlten Abstieg. Die kirchlichen Repräsentanten können offenkundig den Kirchenmitgliedern nicht das Gefühl vermitteln, den Abstieg nicht fürchten zu müssen. Die Kirchenleitungen treten für die Religionsfreiheit der anderen ein – das ehrt sie. Aber sie sind offenbar nicht in der Lage, die Angstfolgen des Abstiegs zu bannen. Darin liegt eine wirkliche Gefahr.

In Europa ist der „Islam“ zur Chiffre für das Abstiegsgefühl einer einst herrschenden christlichen Religion geworden. Hier lauern Ressentiments gegenüber den Gewinnern der religiösen Globalisierungsprozesse. Für das Christentum stellt sich deshalb die Frage: Hat es geistliche Ressourcen, diesen Ressentiments zu widerstehen – jenseits der Verpflichtung auf die Grundwerte der jeweiligen Verfassungen? In seiner Antrittsrede als Papst hatte Johannes Paul II. den Christen zugerufen: „Habt keine Angst!“ Im Geist dieses Papstes kann man ergänzen: auch und gerade nicht vor den anderen Religionen und ihren öffentlichen Zeichen. Aber wie schaffen Christen das?

Sie brauchen eine erneute Aufstiegsperspektive. Als Religionsgemeinschaft werden sie die in Europa aber nicht mehr bekommen. Aber es gibt eine Alternative: die Pastoralgemeinschaft. In deren Identität sind all die anderen unausweichlich eingetragen, die es auch noch auf diesem Planeten gibt und die um öffentlichen Respekt vor ihrer Würde ringen. Religionsgemeinschaftliche Aufstiegsszenarien schielen gerne selbstgefällig auf den Abstieg der anderen. In diesem Schielen verschwimmt der klare Blick auf die humanen Kosten des Aufsteigens. Pastoralgemeinschaftliche Aufstiegsszenarien erkennen an, dass die christliche Religionsgemeinschaft die humanen Kosten durch die ganze Moderne hindurch auf andere abgewälzt hat, was dem Christentum heute manchmal die Genugtuung der anderen über seinen möglichen Abstieg einbringt.

Vom Aufstieg durch Abstieg

Mit dieser Genugtuung müssen sich die Christen nicht aufhalten. Sie können sich an ihr Evangelium halten, das ihnen Umkehr verordnet. In ihm kehrt sich Oben und Unten so sehr um, dass ein Aufsteigen von anderen nicht mit dem eigenen Abstieg verzahnt werden kann. Das Gegenteil ist der Fall. Ohne ein qualifiziertes Absteigen in die humanen Nöte der anderen, besonders der arm und klein Gemachten, gerät das eigene Aufsteigen aus dem Takt. Wenn die kirchlichen Religionsgemeinschaften sich im Namen der Gerechtigkeit für die Globalisierungsverlierer stark machen und den Selbstherrlichkeiten der Aufsteiger widersprechen, dann ist das nicht so einfach aus dem öffentlichen Diskurs zu drängen. Das ist die Pastoralgemeinschaft im christlichen Maßstab. Sie folgt der Spur christlicher Hoffnung, die für alle da ist und von der Anerkennung besonders der anderen lebt, siehe 1 Petr 3,15. Diese Anerkennung ist nicht auf Kosten der anderen zu bekommen, wohl aber im Respekt vor den anderen in der Botschaft Jesu präsent. Gerade die säkular-humane Kraft dieser Botschaft bricht die beschränkte Selbstbespiegelung christlicher Religionsgemeinschaften auf und öffnet für eine integrale Pastoralgemeinschaft. In dieser Botschaft agiert Jesus nicht einfach als ein Herr, als „dominus Jesus“, der einen Knecht nötig hat, um die Anerkennung als Herr zu erreichen. Dieser Jesus ist der „servus Jesus“, ein Sklave aller, der für die Aufhebung jener Herrschaft arbeitet, die ohne Knechte nicht sein kann. Dieser Knecht Jesus verträgt sich deshalb nicht mit Ressentiments über den Aufstieg von anderen, auch wenn sie Konkurrenten auf dem globalen Religionsmarkt sind. Diese Knechtschaft, die für den humanen Aufstieg der anderen arbeitet, ist ein Exempel jener Liebe, von der niemand ausgeschlossen ist und an der religiöse Rechthaberei, und zwar vor allem die eigene, zerschellt.

Wenn die Türken schon in Europa stehen, kann der Glaube an diese Liebe zeigen, was er kann. Sie bietet wahrscheinlich viel mehr an Aufstieg, als man sich gemeinhin in Europa als Christin, als Christ vorzustellen wagt.

* Die Autoren sind katholische Theologen. Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie an der Universität Graz, Hans-Joachim Sander Leiter des Fachbereichs Dogmatik an der Universität Salzburg

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