Wenn Frankreich gegen Frankreich spielt

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Ganz Frankreich scheint vereint im Fußball-Weltmeister-Freudentaumel. Doch Gegensätze, Klüfte und Unvereinbarkeiten gibt es genug. Was die Grande Nation trennt und was sie zusammenhält, dem gehen Wolfgang Matz und Jean-Christophe Bailly in ihren Büchern nach.

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Ganz Frankreich scheint vereint im Fußball-Weltmeister-Freudentaumel. Doch Gegensätze, Klüfte und Unvereinbarkeiten gibt es genug. Was die Grande Nation trennt und was sie zusammenhält, dem gehen Wolfgang Matz und Jean-Christophe Bailly in ihren Büchern nach.

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Ein Name, ein Programm: "La République en marche". Das Frankreich von Emmanuel Macron soll anders werden - kraft einer Politik, die der Präsident elastisch hält: "Ni de droite, ni de gauche". Ganz neu ist die Formel nicht: Schon Charles de Gaulle beschwor damit die nationale Einheit, auch der Front National reklamierte sie für sich. Dieses Weder-Noch ist als Vermittlungsstrategie zu deuten, denn in der Grande Nation klafft zwischen Links und Rechts ein alter, tiefer Graben. Genau diesem geht der deutsche Literaturwissenschafter Wolfgang Matz in seiner Studie "Frankreich gegen Frankreich. Die Schriftsteller zwischen Literatur und Ideologie" nach.

Die Spaltung Frankreichs begann mit der Großen Revolution. Das Ideal der unteilbaren, unauflöslichen Einheit, der "Nation une et indivisible", konkretisierte sich zwar in zentralistischer Verwaltungs-,Sprach- oder Schulpolitik, doch der Geist des Ancien Régime erwies sich als nachhaltig: ein ideologischer Graben tat sich auf. Die "nachrevolutionäre, von der Großstadt Paris geprägte Republik, antireligiös, egalitär, internationalistisch, bürgerlich, dem Fortschritt verschrieben und der Judenemanzipation" war nicht kompatibel mit der France profonde, die "monarchistisch, katholisch, ständisch, nationalistisch und immer stärker antisemitisch" geprägt war.

Motive des Grundkonflikts

Wolfgang Matz folgt dieser Bruchlinie. Er legt die Motive des latenten Grundkonflikts dar - und seine fatalen Auswüchse in Krisenzeiten (Dreyfus-Affäre, Weltkriege, Kolonialkriege, Stalinismus). Dabei rückt er Schriftsteller in den Brennpunkt, deren Leben und Werk die Komplexität dieser Kontroverse schlaglichtartig erhellen: "rechts" unter anderem Robert Brasillach, Georges Bernanos, Maurice Barrès, Charles Maurras, Pierre Drieu la Rochelle, Jean Giono, Céline; "links" Zola, Louis Aragon und Elsa Triolet, André Breton, Paul Éluard, Romain Rolland, André Gide, André Malraux. Unversöhnliche Lager, die Kritik in den eigenen Reihen oft schwer ertrugen: Jean-Paul Sartre rückte Albert Camus wegen dessen Verurteilung des linken Totalitarismus ins rechte Eck, der kritische Gide wurde zum Faschisten und Päderasten gestempelt.

Matz zeigt noch andere Dilemmata ideologischer Positionierung auf: Wie hält man es mit seinem Pazifismus, Nationalismus oder der internationalen Solidarität im Ernstfall? Der Erste Weltkrieg fand in großen Werken seinen Niederschlag und bekommt in Matz' Analyse entsprechend viel (im Fall von Drieu la Rochelle zuviel) Raum. Frankreich geht wohl als Sieger aus der Grande Guerre hervor, für die nationale Renaissance aber reicht das nicht. Das Trauma des großen Schlachtens löst eine hilflose Politik des "Friedens um jeden Preis" aus. Es folgt die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, aus dem der Kommunismus als ideologisch-moralischer Sieger hervorgeht. Und die (Résistance-)Linke als Hüterin des nationalen Mythos. Sie gibt in Frankreichs Kultur fortan den Ton an. - Eine lesenswerte, aufschlussreiche Studie. Schade nur, dass Wolfgang Matz die Ära nach Sartre so knapp fasst. Die Rolle der neuen Philosophen, deren Ideologiekritik "das Ende der linken Hegemonie in der französischen Kultur" einläutet, streift er nur, der neue Antisemitismus bleibt unerwähnt.

Gegensätze, Klüfte und Unvereinbarkeiten innerhalb Frankreichs zeigt auch Jean-Christoph Bailly auf -obwohl der französische Autor eigentlich nach den Bindemitteln, den Identitätsstiftern der Nation sucht. Für seinen Essay "Fremd gewordenes Land" reiste er quer durch den Hexagon: um zu erfassen, was denn nun das "Französische" ausmacht; um Orte, Dinge, Stimmungen oder Bilderwelten aufzuspüren, die in ihm ein Gefühl der Vertrautheit, der Zugehörigkeit auslösen. Das Ergebnis ist ein so sinnliches wie historisch-kritisches Kaleidoskop. Bailly erfasst Lebensräume in ihren Oberflächen und Tiefenschichten: ihren Topografien, Klang-

farben, Architekturen und Ikonographien, den Sitten und sozialen Prägungen. An Symbolstätten wie dem Oppidum Bibracte, wo Vercingetorix die Einheit der Gallier besiegelte (und Mitterrand begraben werden wollte), sinniert er über die gallische Prägung Frankreichs -und am Pont du Gard über die römische. Dabei wird er sogar innerhalb der Gallia Narbonensis einer Trennlinie gewahr: Links der Rhône liegt das kokette Tarascon (Provence, Italien zugewandt), gegenüber das schwermütigere Beaucaire (Languedoc, Hinwendung zu Spanien). Bailly gelingt das Kunststück, die Wesensunterschiede dieser Städte sogar an deren mythischen Flussungeheuern zu spiegeln: Beaucaire unterliegt im Kampf gegen seinen Drac, Tarascon bezwingt seine Tarasque. Zu Frankreichs "nationaler" Tierwelt gehören natürlich auch La Fontaines Fabeln - oder die sanften Kühe auf Camembertschachteln bzw. das Bild der "Vache qui rit": kommerzielle Ikonen, die für Bailly auch von einer Art "pastoraler Empathie" der Franzosen gegenüber Milchkühen erzählen.

Skepsis gegenüber Typologien

Als seine literarischen Compagnons de Voyage erkor Bailly unter anderem Stendhal, Rimbaud und Barthes; Goethe, Novalis, Büchner und Benjamin. Mit Scharfsinn und Empathie, einem Hauch Nostalgie und großer Skepsis gegenüber Typologien entfaltet er ein zivilisatorisches Gewebe, das im Vertrauten Fremdes sichtbar macht. Das Überfrachtungen, Verklärungen und Narben eines buntscheckigen Ganzen aufzeigt. Seinem geografischen und historischen Zickzackkurs entspringt Denkbild um Denkbild, gespeist aus dem Genius loci, Erinnerungen und einer hohen assoziativen Kraft. Mühelos schlägt dieser empfindsam Reisende die Brücke von einer Bordelaiser Reusenmanufaktur zu den Fadengittern perspektivischen Zeichnens, also vom Lokalen zum Universellen; unaufhaltsam sensibilisiert er für die bescheidenen Indikatoren, die oft die "beharrlichste Fabrikationsstätte" für Identität bilden, ob in Gestalt des Reifenmännchens von Michelin oder der Aperitif-Parade im Bistro. Baillys Befund: Das Bild von Frankreich als einer unverrückbaren Einheit und Vielfalt hat sich gewandelt: durch den Weltengang, aber auch durch eine innere "Ent-Überzeugung" und das Fehlen eines "Volks", das sich voll mit dieser Nation identifiziert. Das Wir der Zukunft sei wohl nur via Öffnung erreichbar, ohne dass das Land sich dabei - in einem hohlen Globalismus -selbst entziehe.

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