Suizidgedanken bei jungen Menschen - © Shutterstock

Wenn junge Menschen sterben wollen: Hilfen für Betroffene und neue Ansätze zur Suizid-Prävention

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Eine aktuelle Befragung offenbart eine bedenklich hohe Zahl an Jugendlichen, die schon einmal an Suizid gedacht haben. Jene, die ihre Pläne tatsächlich umsetzen, hinterlassen sprachlose Verzweiflung. Kriseninterventionszentrum, Telefonseelsorge und Selbsthilfegruppen bieten Hilfen für Betroffene an, bei Experten der Medizinischen Universität Wien sind Schulungsunterlagen erhältlich.

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Eine aktuelle Befragung offenbart eine bedenklich hohe Zahl an Jugendlichen, die schon einmal an Suizid gedacht haben. Jene, die ihre Pläne tatsächlich umsetzen, hinterlassen sprachlose Verzweiflung. Kriseninterventionszentrum, Telefonseelsorge und Selbsthilfegruppen bieten Hilfen für Betroffene an, bei Experten der Medizinischen Universität Wien sind Schulungsunterlagen erhältlich.

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Es ist der 26. Juli 2005. Christine Buchberger steht gerade in einem Linzer Babymodengeschäft, um für ihre neugeborene Nichte ein Geschenk zu kaufen, als plötzlich ihr Handy läutet. Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine unbekannte Stimme; sie sagt einen Satz, der das Leben der damals 47-jährigen Sozialbegleiterin und Mutter zweier Söhne von Grund auf erschüttern wird: "Ihr Sohn hat sich erschossen."

Der Schockzustand, den dieser lapidare Satz am Telefon damals in ihr auslöst, kann Buchberger auch heute, mehr als elf Jahre danach, kaum in Worte fassen. "Ich bin wie in Trance nach Hause gefahren", erzählt sie.

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Erst eine Woche zuvor hatte sie mit ihrem 18-jährigen Sohn Paul die Sachen für seinen KFOR-Einsatz in Bosnien gepackt, zu dem er sich freiwillig gemeldet hatte. Nun stand ein Gesandter des Bundesheeres vor ihrem Haus, betrat mit ihr die Wohnung und sagte als Erstes: "Na, da schaut es eh ganz ordentlich aus."

"Ein überaus lustiger Bub"

Seine weitere Unterstützung lehnte Buchberger nach dieser Aussage ab. Als ob man von einer Wohnung auf die seelische Verfasstheit seiner Bewohner schließen könnte; als ob man überhaupt die Ursachen eines Suizids so einfach nachzeichnen könnte. "Paul war ein Wunschkind, ein überaus lustiger Bub", erzählt Buchberger. Erst im Gymnasium habe er sich verändert, nicht mehr so leicht Freunde gefunden und nach einem Schulwechsel den Unterricht geschwänzt. Doch die Eltern unterstützten ihn, organisierten eine Psychotherapie, versuchten den Blick auf das Positive zu lenken. Beim Bundesheer schien ihr Sohn endlich seinen Platz gefunden zu haben: Er machte den Lastwagenführerschein, wollte im Ausland den Frieden sichern helfen.

Sein Suizid stürzte die Familie in tiefste Verzweiflung. "Es war die Hölle auf Erden", erinnert sich seine Mutter: Verwandte, Freunde und Arbeitskollegen reagierten mit hilflosem Schweigen, auch drei Therapeutinnen erwiesen sich als überfordert. Erst bei der Linzer Selbsthilfegruppe "Trauernde Eltern" fand Buchberger Menschen, die ihre Schuldgefühle nachempfinden konnten. "Hier habe ich offen reden können und auch verstanden, dass ich nicht alles falsch gemacht habe", erzählt die 58-Jährige. Heute leitet sie selbst in Linz eine Selbsthilfegruppe für Eltern nach Suizid.

Rund 1300 Personen (darunter knapp tausend Männer) haben sich laut aktuellem Suizidbericht im Jahr 2014 das Leben genommen - das sind um 39 Prozent weniger als im Jahr 1986, aber noch immer drei Mal so viele Tote wie im Straßenverkehr. Die größte Zahl ist dabei in der Altersgruppe von 50 bis 54 Jahren zu verzeichnen, bei Kindern und Jugendlichen kommt es vergleichsweise selten zu diesem letzten Schritt. Dennoch ist jeder Fall einer zu viel: Laut Nestor Kapusta, Psychiater an der Medizinischen Universität Wien und Suizidforscher, kommt es bei den Zehn- bis 14-Jährigen in Österreich zu etwa drei Selbsttötungen pro Jahr, bei den 15- bis 19-Jährigen zu rund 25 und bei den 20- bis 24-Jährigen zu etwa 50 Fällen. Wobei die Rate bei Burschen vier bis sechs mal so hoch ist wie bei Mädchen.

Ich hätte dem Paul sagen sollen: Gell, es geht dir gerade sehr schlecht. Und ich hätte ihm jeden Tag sagen sollen, wie lieb ich ihn habe.

Christine Buchberger, Mutter

Warum ein Jugendlicher diesen verzweifelten Schritt setzt, hat meist vielfältige Gründe, so Kapusta: "Es gibt natürlich manchmal einen benennbaren Auslöser - etwa das Ende einer Liebesbeziehung, schulische Probleme oder Mobbing. Meist liegt aber eine schwerwiegende Emotionsverarbeitungsproblematik oder psychiatrische Erkrankung zugrunde, die dazu führt, dass solche Kränkungen wesentlich schwerer wiegen." Häufig gehen suizidale Gedanken auch mit Sucht und Selbstverletzungen einher.

Wie erschreckend häufig solche Phänomene bei Österreichs Jugendlichen sind, offenbart die aktuelle Befragung "Safe and Empower Young Lives in Austria" (SEYLA). Nach dem Vorbild der vorangegangenen Befragung "SEYLE" (Safe and Empower Young Lives in Europe), die in elf EU-Staaten durchgeführt und in Österreich (Tirol) vom Haller Psychiater Christian Haring geleitet wurde, hat man rund 6000 Schülerinnen und Schüler zwischen 14 und 18 Jahren in Tirol, Oberösterreich, Wien und der Steiermark zu riskanten Lebensweisen und psychischen Belastungen befragt.

Schon die erste Auswertung, die der FURCHE exklusiv vorliegt, liefert bedenkliche Zahlen: So gaben etwa 26 Prozent der Jugendlichen (und 32,8 Prozent der Mädchen) an, sich selbst schon einmal verletzt ("geritzt") zu haben; 30,8 Prozent der Befragten (42,4 Prozent der Mädchen) sagten, dass sie schon an einer Depression gelitten hätten; 26,2 Prozent (32,1 Prozent der Mädchen) erklärten, "schon einmal daran gedacht zu haben, sich das Leben zu nehmen, auch wenn sie es vielleicht nicht wirklich machen würden"; 15,3 Prozent der jungen Leute (18,7 Prozent der Mädchen) meinten, dass sie schon einmal konkrete Pläne entworfen hätten, wie sie sich umbringen könnten; und 5,3 Prozent der Jugendlichen (6,7 Prozent der Mädchen) gaben an, bereits einen Suizidversuch hinter sich zu haben.

Wir werden immer um unsere Kinder trauern, aber indem wir darüber sprechen, schöpfen wir auch wieder Kraft und neuen Lebensmut.

Christine Buchberger, Mutter

Suizidgedanken müssen bei weitem nicht bedeuten, dass es später zu einem Suizid(versuch) kommt. Dennoch müssen sie ernst genommen werden. Doch was kann jungen Menschen in Krisensituationen helfen? Um das zu beantworten, wurden im Rahmen des EU-Projekts "SEYLE" auch vier verschiedene Präventionsmaßnahmen untersucht: Lehrerinnenschulungen, Schülerschulungen, Screenings der Schüler mit anschließender Beratung gefährdeter Jugendlicher sowie simples Aufhängen von Plakaten mit Beratungsadressen.

"Am Effektivsten hat sich dabei die Schulung der Schüler selbst erwiesen. Die Suizidgedanken und -versuche konnten damit halbiert werden", erklärt Raphaela Banzer, die als klinische Psychologin bei der Innsbrucker Suchthilfe "BIN" arbeitet und die österreichische SEYLA-Befragung mit Christian Haring koordiniert hat. Ab 2017 soll deshalb das von Banzer und Haring geleitete Suizidpräventionsprojekt "Youth Aware of Mental Health" (YAM) an zehn Tiroler Schulen implementiert werden. In fünf Stunden und vielen Rollenspielen werden die Schüler für Themen wie Depression und Suizidalität sensibilisiert.

Ansprechen statt beschönigen

Doch auch für das Leben außerhalb der Schule gibt es neue Hilfen: Experten um Nestor Kapusta haben im Rahmen der österreichischen Suizidpräventionsinitiative "SUPRA" Leitfäden für "Gatekeeper" wie Ärzte und Lehrkräfte, aber auch für Angehörige entwickelt. "Wichtig ist, Warnsignale wie sozialen Rückzug, Wesensveränderungen sowie direkte oder indirekte Ankündigung des Suizids immer ernst zu nehmen - und konkret nachzufragen, wenn man befürchtet, dass der andere Suizidgedanken hegt", betont Kapusta. Dadurch könne es zu entlastenden Gesprächen kommen. Fühle man sich überfordert, so stünden Beratungsstellen zur Verfügung (s.u.).

Direkter nachfragen: Das hätte auch Christine Buchberger aus heutiger Sicht gern getan. "Ich hätte dem Paul sagen sollen: 'Gell, es geht dir gerade sehr schlecht'. Und ich hätte ihm jeden Tag sagen sollen, wie lieb ich ihn habe - und mir das nicht nur denken." Anderen Betroffenen geht es ähnlich. Viele haben - wie sie selbst - auch keinen Abschiedsbrief erhalten und wissen bis heute nicht, was genau ihr Kind zu dieser Tat getrieben hat. "Wir werden immer um unsere Kinder trauern", sagt Buchberger. "Aber indem wir darüber sprechen, schöpfen wir auch wieder Kraft und neuen Lebensmut."

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