Wenn Kinder die erste Geige spielen

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Im Film "Kinders" nähern sich Arash und Arman Riahi der Initiative "Superar", die durch gemeinsames Musizieren Entfaltung und Dialog fördern will. Im Zentrum stehen freilich die jugendlichen Protagonisten selbst - mit ihren Exaltiertheiten ebenso wie mit ihren Nöten.

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Im Film "Kinders" nähern sich Arash und Arman Riahi der Initiative "Superar", die durch gemeinsames Musizieren Entfaltung und Dialog fördern will. Im Zentrum stehen freilich die jugendlichen Protagonisten selbst - mit ihren Exaltiertheiten ebenso wie mit ihren Nöten.

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Selbstsicher werden, seine Potenziale entfalten, Hindernisse überwinden und zu sich selber finden: All das sind wesentliche, wenn nicht die eigentlichen Ziele von Bildung. Sollte es möglich sein, dass eine solche Charakter-und Herzensbildung nicht nur bei charismatischen Lehrkräften in der Schule, sondern auch und besonders beim gemeinsamen Musizieren gelingt?

José Antonio Abreu ist davon ausgegangen. Der venezolanische Komponist, Ökonom, Politiker und Erzieher hat nicht nur 1975 das "Orchesta Sinfónica da la Juventud Venezolana Simón Bolívar" gegründet, in dem er jungen Musikern aus Caracas eine Chance gab - er wollte auch Kindern aus den Favelas durch gemeinsames Singen und das Erlernen eines Musikinstrumentes neue Perspektiven eröffnen. Der Name des Projektes, das mittlerweile mehr als 500.000 Kinder begleitet: "El Sistema".

Singen in Srebrenica

2009 kam das Projekt schließlich nach Österreich - durch eine gemeinsame Initiative der Caritas der Erzdiözese Wien mit dem Wiener Konzerthaus und den Wiener Sängerknaben. Unter dem Namen "Vorlaut" wurden anfangs rund 350 Kinder an drei Schulen in der Bundeshauptstadt betreut - auch und besonders solche mit persönlichen Problemen oder aus sozial benachteiligten Familien. Heute begleitet man unter dem Label "Superar" rund 1200 Kinder in Wien, Graz, Salzburg und Vorarlberg sowie weitere 1150 Kinder in Bosnien, der Slowakei, Rumänien, der Schweiz und Liechtenstein. Mindestens zwei Mal, meist jedoch vier Mal in der Woche findet dabei in Kindergärten, Schulen und Gemeindezentren kostenloser Gesangs- und Orchesterunterricht mit hohem künstlerischem Anspruch statt. Seit Oktober 2014 hat man zudem im "Objekt 19" in der alten Ankerbrotfabrik in Wien-Favoriten einen fixen Standort mit drei Proberäumen und einem eigenen Veranstaltungssaal.

Gemeinsames Musizieren als Entwicklungsförderung und Therapie: Diese Vision von "Superar" hat auch die Brüder Arash und Arman Riahi fasziniert. Monatelang haben die beiden Regisseure, die seit Arbeiten wie "Ein Augenblick Freiheit" (2008) oder "Schwarzkopf" (2011) als fixe heimische Film-Größen gelten, die Kinder mit der Kamera begleitet. Das Ergebnis "Kinders" hat den diesjährigen Diagonale-Publikumspreis gewonnen. Diesen Freitag kommt der Film in die heimischen Kinos. Sie hätten keinen Werbefilm für "Superar" machen wollen, erklären die "Riahi Brothers", sondern es geht um die Frage, "wie die künstlerische und musische Erziehung das Leben der Kinder beeinflusst und ihnen Räume öffnet, die sie bis dahin nicht kannten und die ihnen einen Ausweg aus dem bisherigen Leben zeigt". Tatsächlich steht gar nicht die Institution selbst im Mittelpunkt, auch werden nicht bloß Erfolgsgeschichten erzählt. Gezeigt wird vielmehr ein Panoptikum reichlich altkluger, um nicht zu sagen exzentrischer junger Menschen, die als Darsteller in dieser spielfilmnahen Dokumentation zweifellos die erste Geige spielen, denen der Befreiungsschlag durch Musik aber nicht zwingend gelingt.

Unangefochtener Star in dieser Hinsicht ist die junge Ariunaa: Gleich zu Beginn lassen sie die Riahi-Brüder ihren Frust über die Welt in einen Wald schreien - und in gestelztem Hochdeutsch erklären, dass sie manchmal vor lauter Wut gute Lust hätte, jemandem den Kopf abzuschneiden. Später wird sie erklären, wie sehr sie ihre Schwester Amraa hasse - und sich mit ihr darüber streiten, wer mit wem (nicht) mithalten könne. Dass sie beim Schulkonzert in einen Heulkrampf ausbricht, weil ihr ein kleiner Lapsus unterlaufen ist und aus ihr doch "kein zweiter Mozart" wird, zeigt nicht nur die theatralische Begabung des Mädchens, sondern auch, dass sich klassische Musik mit hohem künstlerischem Anspruch nicht immer nur befreiend auswirken muss, sondern für perfektionistische Gemüter auch ziemlich bedrückend sein kann.

Auswärts schlafen? Schon gewohnt

Und auch sonst gibt es für die Kinder von "Superar" so manche Belastungen: Zum Beispiel einen muslimischen Bruder, der seiner Schwester beim Singcamp im bosnischen Srebrenica das Tanzen verbietet, weil es gegen die Scharia verstoße; oder eine tote Ratte am Weg, die zur Frage führt, ob man nach einem Suizid in den Himmel kommt. Ein durchgängiges Motiv bildet freilich das Leiden am Zerbrechen der eigenen Familie - sei es durch den Tod des Vaters wie bei Ariunaa und Amraa, sei es durch ein Leben im Krisenzentrum, wie beim jungen Denizcan. Dass die Musik zu seiner neuen Heimat wird, indem man ihn bei den Wiener Sängerknaben aufnimmt, ist das eigentliche Happy End des Films - mehr noch als der fulminante Auftritt im Wiener Konzerthaus. "Das Lernen bei uns ist aber etwas anders und du kannst vor allem nicht immer zuhause schlafen", warnt ihn Gerald Wirth, künstlerischer Leiter von Wiener Sängerknaben und "Superar". Doch Denizcan erträgt es mit Gleichmut: "Daran bin ich gewöhnt."

Kinders

A 2016. Regie: Arash und Arman T. Riahi. Verleih: Autlook Filmsales. 93 Min.

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