Wenn Kulissen stürzen

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Verzweiflung: Anatomie eines Affekts.

Sie ist allgegenwärtig und doch ein Tabu. In den Gesichtern der Menschen sieht man sie nicht, wie man etwa Freude, Wut oder Trauer sieht: die Verzweiflung. Wer von ihr überwältigt wird, findet oft keine Worte. Diesen schreck- lichen Zustand haben Künstler, Schriftsteller, Maler, Musiker zu erfassen versucht. Nachgedacht über die Verzweiflung haben Philosophen, Theologen, Psychologen, Psychotherapeuten.

Es gibt unzählige Auslöser für Verzweiflung. "Verursacht manchmal durch einen kleinen Anlass, können plötzlich die Kulissen einstürzen", sagte der französische Schriftsteller Albert Camus. Todesfälle in der Familie, unerwartet hereinbrechende oder auch endlos scheinende Krankheiten, Liebeskummer, Geldprobleme... Aber es gibt auch die innere Verzweiflung, das Zerfallensein mit sich und der Welt.

Ohnmachts-Zwangsjacke

"Mit einem Affekt kann man nicht diskutieren", behauptete der Philosoph Bertrand Russell. Das klare Denken ist ausgeschaltet, der Betroffene fühlt eine innere Lähmung, erlebt die Welt wie durch eine Glaswand, kann die Ohnmachts-Zwangsjacke nicht sprengen. Klinisch spricht man in hier von der depressiven Verzweiflung. Ihr gegenüber steht die laute Verzweiflung, die seit der Antike bekannt ist: Das Rasen gegen die Götter, gegen sich selbst, gegen das Schicksal.

Verzweiflungszustände können die Form von Panik annehmen, und diese mündet nicht selten in Todessehnsucht. Der Philosoph Sören Kierkegaard nannte die Verzweiflung eine "Krankheit zum Tode". Man stirbt in der Regel nicht daran, doch im Gegensatz zu einer somatischen Krankheit "stecke man sich ständig wieder neu an", so dass die Verzweiflung nicht nur ständig anwesend sei, sondern sich vertiefe, weil sie sich immer wieder neu auflädt. Kierkegaard war überzeugt, dass die Verzweiflung ein Charakteristikum seines, des 19. Jahrhunderts, sei. Naturwissenschaften und Technik mit ihrem ungeahnten, atemberaubenden Aufstieg würden den Einzelnen missachten. Es werde immer schwieriger, die eigene Persönlichkeit zu entfalten, sich auszuhalten.

Hätte er mit seiner Diagnose Recht gehabt, wären wir Heutigen durch Globalisierung und Flexibilisierung noch viel stärker von der Allgegenwart der Verzweiflung betroffen. Die Erlebnis- und Spaßgesellschaft drängt den Einzelnen dazu, nur nach außen zu leben. Wie formulierte schon Hölderlin: "Immer spielt ihr und scherzt?/ Ihr müsst! O Freunde! Mir geht dies/ In die Seele,/ denn dies müssen Verzweifelte nur." Wir verdunkeln uns unsere Existenz vor uns selbst, um nicht einmal eine Ahnung zuzulassen, dass wir verzweifelt sein könnten.

Primär scheint die Verzweiflung etwas zu sein, mit dem der Einzelne geschlagen ist. Aber stimmt das wirklich? Schon in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts haben die Soziologen Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld in einer Studie über die Arbeitslosen von Marienthal belegt, dass Menschen ohne Arbeit in tiefe Verzweiflung versinken. Weniger erforscht ist die Auswirkung von Verzweiflung am Arbeitsplatz. Sie kann für einzelne Betriebe oder auch ganze Staaten gefährlich werden, denn wer verzweifelt ist, beschäftigt sich im Grunde nur noch mit sich selbst. Will man produktiv sein, braucht man ein positiv gestimmtes Verhältnis zu sich und anderen Menschen.

Lebenskrisen

Die Einheit von Ich und Welt zerbricht im Leben vieler an ganz bestimmten Punkten, den so genannten Lebenskrisen, für die der deutsche Psychoanalytiker Erik Erikson ein Modell aufgestellt hat. Drei Phasen sind besonders verzweiflungsanfällig: Die Jugend, die Bilanz-Zeit zwischen 50 und 60 und das Alter. 50 Prozent der Todesfälle im Alter zwischen zehn und 25 Jahren sind Selbsttötungen, deren Ursache, aus distanzierter Perspektive betrachtet, in einer "uneigentlichen" Verzweiflung liegt: erste verschmähte Liebe, Schulmisserfolge.... Der geldschwere, aber abgetakelte Manager umgibt sich mit verführerischen Models, um nicht in die Leere seines Seins blicken zu müssen. Wer gesteht sich schon gern ein, dass die hoch fliegenden Pläne der Jugend wie Seifenblasen zerplatzt sind?

Die statistischen Befunde für das Lebensende sprechen ihre eigene Sprache. Bringen sich etwa in Deutschland pro 100.000 Einwohner jährlich 20 um, so steigt diese Zahl in der Altersgruppe der 80- bis 85-Jährigen auf 120 je 100.000. Abschiedsbriefe geben den Grund an: Verzweiflung. Der Mensch erzwingt das Nirwana mit Gewalt. Weil er die eigene Hilflosigkeit nicht mehr erträgt, wie der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim, der sich einen Plastiksack über den Kopf stülpte oder die Schriftsteller Jean Amery und Primo Levi, denen das erlebte Böse in Gestalt des nationalsozialistischen Terrors die Seele zerstört hatte: Radikale Grenzüberschreitung, Befreiung aus der Verzweiflung um den Preis des Lebens.

Die zweite radikale Art der Grenzüberschreitung ist das, was Kierkegaard den Sprung in den Abgrund des Glaubens nannte: Die Zuwendung zum Göttlichen, gekoppelt mit Askese und Jenseitshoffnung. Diese Gnade wird nicht jedermann zuteil... Die häufigste Antwort auf Verzweiflung ist allerdings das Beiseiteschieben, was aber nur temporär funktioniert. Dann sieht der Mensch, um ein Bild des rumänisch-französischen Philosophen E. M. Cioran zu verwenden, wieder "die Sackgasse in Flammen" vor sich. Und er verschließt sich, verbittert, hasst sich selbst, wird unproduktiv.

Einem Verzweifelten Hoffnung zu predigen, läuft meist ins Leere. Erst wenn sich die Situation, die seine Verzweiflung ausgelöst hat, verändert, kommt wieder Licht in sein Leben. Die alten Griechen wussten genau, warum sie der Hoffnung als dem perfidesten Geschenk der Götter misstrauten. Sollte die Hoffnung doch die Menschen am Leben halten, damit sie immer von Neuem gequält werden konnten.

Je mehr ein Mensch denkt, desto anfälliger wird er für die Verzweiflung. Betäubung des Bewusstseins durch die Glücksdroge Soma - so stellte Aldous Huxley 1932 in seinem Roman "Brave New World" eine ironische Lösung vor. Sie wird bekanntlich von vielen praktiziert, die glauben, Drogen seien der einzige Ausweg aus dem scheinbar endgültigen Grab der Lebensfreude. Wenn ein Mensch innere Ressourcen hat, Bilder des Trostes, der Hoffnung, kann er allein aus der depressiven Verzweiflung herauskommen. Freunde können stützen. Aber die rasende, paranoide Verzweiflung kann sich nur ausbrennen, bis der Betroffene erschöpft zu Boden sinkt. Aus diesem gefährlichen Zustand sollte man mit professioneller Hilfe zurückgeholt werden.

Schreiben als Therapie

Gegen Verzweiflung scheint kein Kraut gewachsen. Man schweigt darüber in der Öffentlichkeit. Die in Talkshows vorgeführten Betroffenen und ihre Interviewer dringen nicht zum Kern des Problems vor, der bitteren Einsicht in die Endlichkeit eines jeden Menschenlebens. Es gibt keinen Schutz gegen den Zustand, in dem, wie der Philosoph Ernst Bloch es nannte, "die Zukunft nur mehr als Leiche vorkommt". Schöpferisch Begabte haben den Ausweg, den Goethe seinem Tasso in den Mund legte: "Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide."

Der "Verzweiflungs-Experte" unter den modernen Philosophen, E. M. Cioran, bekannte: "Ich habe täglich diese Anfälle von Verzweiflung, viel mehr in meiner Jugend als heute, aber doch mein ganzes Leben lang, wie eine Zwangsvorstellung. Und es ist wahr: Ich habe nicht versucht, mich davon zu befreien. Aber indem ich geschrieben habe, habe ich mich doch befreit. Eine reale Therapie ist für mich nur das Schreiben. In meinem Leben habe ich viele Briefe geschrieben und immer bemerkt, dass, wenn ich einen Brief schreibe, einen ganz intimen Brief, das für mich eine unglaubliche Erleichterung ist."

Wer kein Maler wie Munch, kein Dichter wie Hölderlin, kein Komponist wie Schostakowitsch ist, dem bleibt, was der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid in seinem Buch "Philosophie der Lebenskunst" empfiehlt: Man möge die Daseinsziele immer wieder prüfen und sich fragen, ob sie auch tragfähig seien. Man möge dem Zweifel und der Skepsis Raum geben, nicht dem Leben hinterher hetzen; Freundschaftsbeziehungen pflegen, offen bleiben, den leidenschaftslosen Blick auf alles, auch auf sich selbst üben und die offene Fraglichkeit des Lebens aushalten.

Die Autorin hat das Radio-Kolleg "Anatomie eines Affekts: Die Verzweiflung" gestaltet, das von 11. bis 14. August 9.30-9.45 Uhr in Ö1 gesendet wird.

Die Abbildung ist dem im DuMont Verlag erschienenen Band Martin Kippenberger. Das 2. Sein. Hg. von Götz Adriani entnommen.

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