"Wenn man hasst, was man liebt“

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Vor drei Jahren hat Walter Kohl beschrieben, wie es sich anfühlt, ohne Gerüche zu leben. Nun beschreibt er die dramatische Geschichte seiner Adoptivtochter und ihrer Schwestern - und seine Grenzerfahrungen mit diesem schwierigen, fremden und trotzdem eigenen Kind.

"Das ist ein fremder Mensch, der da sitzt und durch sein eigenes Leben blättert, wie es in den Akten der Adoptionsbehörde dargestellt ist. Tamara, die sich so hemmungslos allem hingeben kann, Glücksmomenten ebenso wie Zorn, Trauer und Leid, nimmt sich ungerührt Schriftstück um Schriftstück vor, auf denen die ersten Monate ihres Lebens in dürrer, distanzierter Amtssprache niedergeschrieben sind. (…) Sie müsste mit den Tränen kämpfen, denke ich, sie müsste die Fassung verlieren. Dieses nun schon 26 Jahre anhaltende Scheißgefühl, im Stich gelassen worden zu sein, müsste sie überwältigen. Doch nichts davon geschieht. (…) Das ist nicht mehr eine von drei Schwestern, die es nicht hinausschafft aus entlegener, das Leben langsam erwürgender Ödnis, nein, das ist jemand, der sich auf den Weg gemacht hat.“

Es ist ein fast versöhnlicher Moment, den Walter Kohl hier in seinem Buch "Mutter gesucht“ beschreibt. Sechs Jahre lang hat der Schriftsteller die dramatische Geschichte seiner heute 28-jährigen Adoptivtochter Tamara und ihrer beiden älteren Halbschwestern Tania und Iris recherchiert, hat Akten gesichtet, Interviews geführt und das umfangreiche Material in ein Buch gegossen (s.u.). Es war ein Grenzgang für alle Beteiligten, auch für ihn selbst. Schließlich ist diese "Geschichte dreier ungleicher Schwestern“, wie der Untertitel des Buches lautet, zu einem Gutteil auch seine eigene.

Gleiches Blut - gleiches Schicksal?

"Die Arbeit daran war schon auch belastend“, erzählt der 59-Jährige und zündet sich im Wiener Café Prückel eine Zigarette an. "Vor allem bei den Interviews sind die Gefühle in mir hochgekocht.“ Wie er da etwa in einem Wohnwagen in Belgien Patricia gegenübersaß, der leiblichen Mutter der drei Schwestern, die als blutjunges Ding in einem holländischen Krankenhaus ihre erste Tochter "strahlend und überglücklich“ in Händen hielt - und sie trotzdem im Spital zurückließ; die es zuließ, dass ihre zweite Tochter von einem Verwandten zum anderen geschickt und schließlich ins Heim gesteckt wurde; und die sich bei ihrer jüngsten Tochter Tamara nicht anders zu helfen wusste, als sie in einer Reisetasche durch halb Europa zur Großmutter nach Linz zu schmuggeln. Wie er diese wilden Geschichten dieser vom Leben überforderten Frau hörte, da war er über die unglaublichen Parallelen zum wilden Leben von Tamara verblüfft. "Rein rational weigere ich mich ja, die menschliche Existenz so zu sehen, dass sich bestimmte Dinge vererben, wenn man, vom gleichen Blut ist‘, sondern ich glaube, dass das eher eine Frage des Sozialen ist“, sagt Walter Kohl und zieht an seiner Zigarette. "Aber allein das ist es offensichtlich auch nicht.“ Nach einer unbeschwerten Kindheit begann Tamara mit 13 Jahren plötzlich auszureißen und die Schule zu schwänzen - wie ihre leibliche Mutter, die sie damals noch gar nicht kannte. Nächtelang haben Walter Kohl und seine Frau Christiane sie gesucht. Beinah ist ihre Ehe daran zerbrochen. Und für das zweite Adoptivkind, einen drei Jahre jüngeren Buben, blieb viel zu wenig Zeit. "Die Schwelle, jenseits der man hassen kann, was man liebt, habe ich mehrfach überschritten“, sagt Tamaras Vater.

Heute hat er zu seiner Adoptivtochter ein sehr gutes Verhältnis. Es war nicht zuletzt sie selbst, die ihn auf die Idee gebracht hat, ihre Lebensgeschichte zu verewigen. Bereits seit 1996 hatte sich Walter Kohl ganz dem Schreiben von Büchern und Theaterstücken gewidmet. Im Schreiben, das er wie jede Kunst "nicht als Therapie, sondern als Krankheit“ begriff, wurde es ihm möglich, eine parallele Welt zu entwerfen, wenn er dem realen Leben verständnislos gegenüberstand. Es war die Zeit, als ihn seine Tätigkeit als Oberösterreich-Korrespondent der Tageszeitung Die Presse immer weniger befriedigte. "Diese permanente Verfügbarkeit war frustrierend“, erinnert er sich. "Wenn der Landeshauptmann einen Furz von sich gegeben hat und ich ihn nicht hatte, dann war Feuer am Dach.“ Dazu kam jenes Ereignis, das sein Leben bis heute entscheidend verändern sollte: Im Sommer 1995 erlitt er bei einem Fahrradunfall lebensbedrohliche Kopfverletzungen - und verlor den Geruchssinn. Seine Erfahrungen mit diesem Verlust hat er 2009 im Buch "Wie riecht Leben? Bericht aus einer Welt ohne Gerüche“ beschrieben.

"Als Vater nicht ganz daneben“

Damals hat Walter Kohl noch mit einem fiktiven Ich-Erzähler gearbeitet. Für das Buch "Mutter gesucht“ hat er jedoch einen autobiographischen, dokumentarischen Zugang gewählt. "Das stellt eine Entwicklung in meiner Arbeit dar“, erzählt er vor dem Café Prückel unter einem ausladenden Baum. "Es interessiert mich immer weniger, mich so lange mit Sachen zu beschäftigen, die nichts mit mir zu tun haben.“

Sein Interesse für die Geschichte der drei ungleichen Schwestern hat insofern wohl auch mit seinen eigenen Wurzeln zu tun. "Als junger Mensch hatte ich auch das Gefühl, nicht so geliebt zu sein, wie es mir zustünde“, sagt Walter Kohl. 30 Jahre später konnte er verblüfft realisieren, dass seine Mutter, die stets Wert auf Anstand und Konventionen gelegt hatte, das engste Verhältnis zu seiner "wilden“ Tochter pflegte.

Dieses schwierige Kind zu adoptieren, davor hatte 1984 sogar die Behörde gewarnt: Es sei bereits vier Monate alt und habe viel Belastendes erlebt. Doch Walter und Christiane Kohl ließen sich nicht abschrecken - schließlich hatte sie die kleine Tamara angelächelt. "Wenn Sie mich vor acht Jahren gefragt hätten, ob ich es wieder tun würde, hätte ich wohl nein gesagt“, meint ihr Vater. "Aber aus heutiger Sicht sage ich: ja.“

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