Wer hat Hirschfelders Bücher geschrieben?

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"Die englischen Jahre": Norbert Gstreins neuer Roman nach vierjähriger Pause handelt von Identität und Identitätsverlust.

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"Die englischen Jahre": Norbert Gstreins neuer Roman nach vierjähriger Pause handelt von Identität und Identitätsverlust.

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Nicht allein um den Identitätsverlust geht es in Norbert Gstreins Roman "Die englischen Jahre", auch um ein regelrechtes Erkenntnisproblem: Wie zuverlässig ist das Bild, das man sich von einem Menschen machen kann? Mit einem umfangreichen Werk meldet sich Gstrein nach vier Jahren Pause zurück. Der 38jährige Tiroler legt sein mittlerweile sechstes Buch vor. Für Furore sorgte sein 1988 erschienener Erstling "Einer", die sprachgewandte Geschichte eines jungen Außenseiters in einem vom Fremdenverkehr verstörten Bergdorf. Nach mehreren schwächeren Erzählungen in zu kurzer Folge präsentiert Gstrein nun einen gekonnt konstruierten, dichten Roman, der schon vor dem Urteil der Leser und Kritiker eine Würdigung erfuhr: Für den noch unveröffentlichten Text erhielt der derzeit in Zürich lebende Autor den renommierten Alfred-Döblin-Preis.

Der Schriftsteller und Emigrant Gabriel Hirschfelder hat viel durchstehen müssen. Seine drei Ehefrauen, die ihn alle überlebten, sollten ausreichend Stoff für Erinnerungen besitzen. Doch Hirschfelder ist ein unergründlicher Typ. Die Erinnerungen der drei Damen lassen sich nicht in Deckung bringen, wie die Erzählerin während ihrer Recherchen feststellen muß. Ein Bild seines Lebens will nicht entstehen, und zum Gerüst der biographischen Daten stellt sich kein Wesen, kein Charakter ein. Daß er ein kalter Kerl gewesen sein muß, ist das einzige, was mit Sicherheit über Gabriel Hirschfelder zu erfahren ist. Der Rest bleibt sein Geheimnis, gesteht die Erzählerin ein: "Am Anfang stand für mich der Mythos Hirschfelder, die Schriftsteller-Ikone, der große Einsame, der Monolith, wie es hieß, der seit dem Krieg in England ausharrte und an seinem Meisterwerk schrieb. Zumindest war es das, was ich vor ein paar Monaten noch mit seinem Namen verband, und bei allem, was ich seither über ihn in Erfahrung gebracht habe, wundert es mich, wie unvermutet dieses Bild nach wie vor darunter auftauchen kann."

1940 werden in England Asylanten, jüdische Flüchtlinge ebenso wie Nazisympathisanten, verhaftet und auf der Isle of Man interniert. Auf die eindringlichen Schilderungen der Londoner Bombennächte und der Tage voll Mangel und Not folgen bedrückend klare Beschreibungen des Lagerlebens. Im Internierungslager trifft der Wiener Jude Hirschfelder auf den Nazi Harrasser, in dessen Namen sich der nationalsozialistische Wahn von der Reinheit der Rasse spiegelt. Als einige Häftlinge deportiert werden sollen, steht auch Harrasser eine Fahrt ins Ungewisse bevor. Er schlägt Hirschfelder vor, darum zu spielen, wer von ihnen tatsächlich von der Insel und an Bord des Schiffes Richtung Kanada geht. Einer der beiden muß ums Leben gekommen sein, als am 2. Juli 1940 der ehemalige Luxusdampfer Arandora Star von einem deutschen Torpedo versenkt wurde und Hunderte Gefangene in den Tod riß.

Der andere hat unter dem Namen Hirschfelder ein einziges Buch veröffentlicht und fortan mehr am eigenen Mythos als am ausständig gebliebenen Meisterwerk gearbeitet. Er ist zum verehrten Schriftsteller aufgestiegen, der Zeit seines Lebens um Identität rang und sie zugleich verwischen wollte.

Diese Geschichte bietet alles andere als Kolportage, weil ihr Autor das Inhaltliche stark zurücknimmt. Der Dualismus von verlorenem Ich und fremd gewordener Mitwelt bleibt Norbert Gstreins zentrales Thema auch in seinem jüngsten Buch. Wie in allen Werken ist die Form anspruchsvoll und der Wechsel der Erzählebenen raffiniert. Bemerkenswert, wie der Autor mit der Sprache umgeht: Der Rhythmus seiner Sätze ist unverwechselbar und bringt einen eigenen Gstrein-Ton hervor, den man auch hier gleich wiedererkennt.

Die etwas glatte Artistik aber steht endlich wieder im Dienst eines wirklichen Erzählgegenstandes, des Emigrantenschicksals. Nach den überstrapazierten Erzählthemen aus der Anti-Heimatliteratur ist Norbert Gstrein weitergegangen. Von der Tiroler Jugend in die englischen Jahre.

Die englischen Jahre. Roman von Norbert Gstrein. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999 390 Seiten, geb., öS 291,- /e 21,14

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