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Der umstrittene deutsche Bestsellerautor und Kinderpsychiater Michael Winterhoff über Ohnmacht und Gewalt in der Erziehung und richtige Konzepte zwischen Eltern und Kindern. Das Gespräch führte Regine Bogensberger

Mit seinem Bestseller Warum unsere Kinder Tyrannen werden setzte der deutsche Kinder- und Jugendpsychiater 2008 eine heftig geführte Debatte über Erziehungskonzepte in Gang (siehe unten). Sein Kernargument: Wir dürfen Kinder nicht weiter wie kleine Erwachsene behandeln und damit überfordern.

Die Furche: Herr Winterhoff, wie verbreitet ist Gewalt in der Erziehung heutzutage?

Michael Winterhoff: Aus meiner Praxis heraus beobachte ich, dass Gewalt enorm zunimmt. Es ist eine eklatante Bestrafungstendenz vorhanden und auch die Bereitschaft, wieder Gewalt anzuwenden.

Die Furche: Worauf führen Sie das zurück?

Winterhoff: Es hat heute einen anderen Hintergrund als vor 50 Jahren. Damals war es ein Erziehungsprinzip, Kinder zu schlagen. Heute ist es so, dass sich viele Eltern in einer Symbiose mit ihrem Kind befinden, sie erleben das Kind als Teil von sich selbst. Daher setzen sie permanent an, ihr Kind verändern zu wollen. Sie wollen, dass ihr Kind jetzt pariert, jetzt schreibt, jetzt liest – das geht nicht. Daher fühlen sie sich ohnmächtig. Sie versuchen aus dieser Ohnmacht heraus, sich trotzdem durchzusetzen. Damit ist die Gefahr einer enormen Bestrafungstendenz bis hin zu Gewalt gegeben.

Die Furche: Gewalt in der Erziehung wird von einer Mehrheit in unserer Gesellschaft abgelehnt, sehen Sie eine Tendenz zurück?

Winterhoff: Nein, Gewalt wird zu Recht abgelehnt und das ist weiterhin so. Strafandrohungen und Gewalt entstehen aus einer Ohnmacht heraus und sind nicht Teil eines Erziehungskonzepts. Modern gestörte Kinder – diese haben den psychischen Reifegrad eines Kleinkindes – sind vielfach völlig respektlos. Das erzeugt Ohnmacht.

Die Furche: Sie sprechen von modern gestörten Kindern. Können Sie das erläutern?

Winterhoff: Ich habe drei Konzepte dargestellt, die sich in den letzten 20 Jahren entwickelt haben: Seit den 90er Jahren sieht man, dass kleine Kinder als Partner gesehen werden. Es gibt die Vorstellung, dass man über reden und begreiflich machen erziehen kann. Damit werden kleine Kinder aber überfordert, weil sie dauernd Entscheidungen treffen müssen. Mitte der 90er Jahre ist es zu einer weiteren Störung gekommen: Viele Menschen erleben unsere Gesellschaft als Angst machend. Sie sagen sich: Wenn mich draußen keiner liebt, soll mich mein Kind lieben. Das Kind wird unbewusst zur Kompensation benutzt, dadurch kommt es zur Machtumkehr. Seit fünf, sechs Jahren beobachte ich symbiotische Eltern-Kind-Beziehungen. Das ist ganz fatal. Der Hintergrund ist eine Gesellschaft, die dauernd sagt, es wird schlimmer und schlechter. Das führt zur Gefahr, dass man psychisch mit seinem Kind verschmilzt, das Kind wird als Teil von einem selbst erlebt. Da ist keine Entwicklung des Kindes mehr möglich. Das heißt: Das kleine Kind als Partner zu sehen, zu meinen, durch begreiflich machen erziehen zu können, führt schon dazu, dass sich Psyche nicht bildet. Aber wenn ich als Eltern geliebt werden will oder unbewusst eine Symbiose eingehe, dann hat das Kind gar keine Chance auf Entwicklung.

Die Furche: Wie viele sind betroffen?

Winterhoff: Ich kann nur für Teile von Deutschland reden, konkret für die Gegend um Bonn. Hier beobachte ich, dass bereits 80 Prozent der Eltern von Kleinkindern in einer Symbiose mit ihren Kindern sind. Dementsprechend sind 80 Prozent der Kinder im Kindergarten und 70 Prozent der Grundschulkinder verhaltensauffällig.

Die Furche: Inwiefern auffällig?

Winterhoff: Ein grundschulreifes Kind wird gerne in die Schule gehen, es wird vieles für die Lehrerin tun, zum Beispiel das Buch aus der Schultasche nehmen, es wird Regeln zu seinen machen. Wenn Sie aber heute eine Grundschulklasse beobachten, dann trifft dies vielleicht auf 30 Prozent der Kinder zu. Die anderen Kinder stellen sich nicht auf den Lehrer ein, sondern steuern ihn. Sie sind respektlos.

Die Furche: Worauf gründen Ihre Zahlen?

Winterhoff: Ein Beispiel: Eine Studie der Bundesregierung sagt aus, dass jeder zweite Schulabgänger nicht ausbildungsreif ist. Je jünger die Kinder werden, umso mehr sind von Beziehungsstörungen betroffen.

Die Furche: Liegt das nicht auch am Schulsystem? Wird zu wenig auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder eingegangen?

Winterhoff: Auf keinen Fall. Wir können lange eine schulpolitische Diskussion führen, das wird diesen Kindern nicht weiterhelfen. Es geht nicht um eine individuelle Pädagogik, es geht um Reifeentwicklung. Das heißt: Wir müssen endlich sehen, dass viele Kinder nicht mehr die Reife mit sich bringen, überhaupt unterrichtet zu werden. Diese Kinder haben eine kleinkindliche Psyche und interessieren sich für Objekte, die ihnen Lust verschaffen. Wir müssen Konzepte entwickeln, wie wir diesen Kindern helfen können, damit sie nachreifen. Da geht es nicht um die Diskussion autoritär versus Laissez-faire…

Die Furche: Sondern?

Winterhoff: Wir müssen dringend überprüfen, ob die Beziehungskonzepte richtig sind. Es gibt Lehrer, die sich als Mentoren sehen, die im Hintergrund die Kinder beobachten und meinen, Kinder könnten sich alleine entwickeln. Das stimmt nicht: Ein Grundschüler lernt für die Lehrerin.

Die Furche: Sie kritisieren das partnerschaftliche Modell. Aber in meinem Verständnis bedeutet das, dass Eltern sehr wohl Kinder führen und schützen, aber Bedürfnisse als gleichwertig ansehen?

Winterhoff: Das Problem liegt weniger an der Partnerschaft, sondern viel mehr daran, dass viele Eltern geliebt werden wollen und damit nicht Nein sagen können und an symbiotischen Beziehungen. Kinder werden nicht mehr als Kinder gesehen, sondern als Teil der Erwachsenen.

Die Furche: Sie sagen, Grundschüler lernen für die Lehrerin. Lehnen Sie damit die These von Jesper Juul vom kompetenten Kind ab?

Winterhoff: Es geht mir gar nicht um die Frage, wie man erziehen soll, sondern es geht mir als Kinderpsychiater um die Reifeentwicklung der Psyche.

Die Furche: Viele Menschen unserer Generation wurden wie Kinder betrachtet und geführt, beklagten später aber mangelndes Selbstbewusstsein, weil sie nicht lernten, ihre eigenen Bedürfnisse ernstzunehmen.

Winterhoff: Es gibt zwei Denkmodelle: Erstens, die reine Hierarchie zwischen Eltern und Kind. Dann kamen die 68er, die sagten, man müsse die Kinder als Person mehr achten und mit ihnen Dinge besprechen und diskutieren. Beide Denksysteme sind wichtig, wir haben auch beide, etwa im Beruf. Zwischen 1970 und 1990 hatten wir eine gute Synthese beider Konzepte. Kleine Kinder wurden als Kinder gesehen und entsprechend geleitet, und je älter Kinder wurden, umso mehr brachte man die Diskussion ein. Nun ist das leider umgekippt in eine Richtung, dass man schon mit kleinen Kindern verhandelt. Das ist der Punkt, den ich aufzeigen will. Ich stelle nicht grundsätzlich eine partnerschaftliche Umgangsform infrage, es ist eine Frage des Alters der Kinder.

Die Furche: Ihre Bücher wurden auch massiv kritisiert. Es wurde Ihnen etwa von Wolfgang Bergmann eine „kalte Gehorsamspädagogik“ vorgeworfen.

Winterhoff: Die Vorwürfe von Herr Bergmann haben keine Substanz. Es geht nicht um den Punkt, Kinder zu lieben. Das ist für mich selbstverständlich. Herr Bergmann hat versucht mich in eine Richtung zu drängen; er sagte, ich würde die alten Verhältnisse wieder herstellen wollen. Darum geht es nicht. Sie werden auch Begriffe wie Gehorsam oder Disziplin nicht in meinen Büchern finden. Meine Thesen sind inhaltlich nie kritisiert worden.

Die Furche: Gehorsam und Disziplin – sind das wichtige Werte für Sie?

Winterhoff: Nein. Wir müssen weggehen von der Vorstellung, dass Kinder nur Regeln lernen sollen und funktionieren. Das wäre fatal. Kinder sollen sich entwickeln.

Die Furche: Hat nicht der Begriff „Tyrannen“ zur Kritik beigetragen?

Winterhoff: Ja, das bedauere ich sehr. Der Begriff war nicht auf Kinder gemünzt. Ich will damit sagen: Wenn Kinder sich nicht entwickeln können, dann haben wir nachher Erwachsene, die Tyrannen sind.

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