Wer weiß, was ein Kopf ist?"Ich nicht."

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Am 11. Jänner jährt sich der Todestag von Alberto Giacometti zum fünfzigsten Mal. Die Werke des Schweizer Bildhauers und Malers erzielen heute Höchstpreise.

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Am 11. Jänner jährt sich der Todestag von Alberto Giacometti zum fünfzigsten Mal. Die Werke des Schweizer Bildhauers und Malers erzielen heute Höchstpreise.

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Tag für Tag schlurfte Giacometti in einem zerknitterten Straßenmantel von seinem Atelier in der Rue Hippolyte-Maindron 46 in sein Stammcafé um die Ecke, leicht hinkend. Ein Schwätzchen mit der Zeitungsfrau nebenan, der er einmal eine Schuhschachtel voller Geldscheine geschenkt haben soll. Sein sinnlich breiter Mund und die traurig und warm blickenden Augen drücken kräftiges Wohlwollen für alle Erdengeschöpfe aus. An seinem Platz im Café ist der Aschenbecher immer gehäuft voll. Auch der Fußboden im Atelier ist übersät mit den Brandspuren ausgetretener Zigarettenstummel. Viele Freunde waren im Laufe von vierzig Jahren in diesem Studio, immer wieder Samuel Beckett. Mit ihm ging er vielleicht ein Glas trinken und das gemeinsame Schweigen war ihnen das angenehmste Gespräch.

Von Käufern, die zu ihm ins Atelier kommen, lässt er sich bar bezahlen und überlegt anschließend mit der Person, die ihm gerade Modell sitzt, in welcher Ecke des Schlafraums -gleich neben dem chaotischen Arbeitsraum - er das Bündel Banknoten am besten hinstecken könnte. Geld lässt ihn gleichgültig.

Gastspiel im Surrealismus

Fünfzig Jahre später wird Giacometti in der Kunstwelt als Rekordkünstler geführt: mit 141 Millionen Dollar -im Mai des vergangenen Jahres bei Christies's für die Skulptur "Zeigender Mann" - "holte sich Giacometti den Titel 'teuerste Skulptur der Welt'", wie eine Kulturjournalistin im Sportjargon schrieb. Wie darf man es interpretieren, dass Giacomettis Ackerfurchengesicht und einige seiner populären "Burnoutgespenster"(Die Zeit) die Schweizer Hundert-Franken-Banknote zieren - als Ironie oder doch eher als unterbewussten Zynismus? Als Kunst in Banken-Foyers wird jedenfalls ihr subversiver Ernst zur gefälligen Kaufanregung entgiftet.

Nachdem Alberto Giacometti am 11. Jänner 1966 gestorben war, kam die große Kunstwelt ins Bergell, dieses italo-schweizerische Alpental in Graubünden, um einer ihrer Berühmtheiten Addio zu sagen, Adieu, Goodbye. Zwei schwere Rösser zogen an einem eisigen Morgen den Wagen mit dem Sarg, dahinter nicht nur Sammler und Museumsdirektoren, sondern auch alle aus dem Dorf Stampa. Am Friedhof von San Giorgio in Borgonovo ist Giacometti begraben worden. Er war Sohn seines Tales geblieben. Treu der Mutter, die er nur um zwei Jahre überlebte. "Le chien", der Hund, eine von den zwei Tier-Skulpturen, schrundig wie die Berge, mit gesenkter, Spur suchender Schnauze, das war Stampa. Die zweite Skulptur, "Le chat", die Katze, das war der andere Lebenspol: Paris mit den streunenden Modellen, die ihm, vielleicht auch angelockt, in das Atelier zugelaufen waren, in die verstaubte Zelle seines Armutsgelübdes. Der Giacometti von Stampa war ein Muttersöhnchen, der von Paris ein Nachtgeschöpf.

Sein erfolgreiches vierjähriges Gastspiel im Kreis der Pariser Surrealisten anfangs der Dreißigerjahre endet, als er sich wieder Kopf- und Porträtstudien "nach der Natur" zuwendet. Giacometti wollte keine "Objekte" mehr schaffen, sondern in Skulpturen und Zeichnungen das Wesen des menschlichen Kopfes ergründen. Nachdem ihn der Surrealistenpapst André Breton angeschrien hatte, jeder Mensch wisse doch, "was ein Kopf ist", antwortete Giacometti lapidar: "Ich nicht."

Mit zwanzig hat Alberto in Florenz und später im Louvre ägyptische Kunst für sich entdeckt. Die ins Zeit-und Raumlose blickenden Stand- und Schreitfiguren. Ähnliche Affinität fand er in den Skulpturen etruskischer Grabbeigaben. Das Thema des Todes liegt nahe. Giacometti hat sich nie davor gedrückt. "Alles ist bedroht!" Seit er einmal das Sterben eines Freundes mitansehen musste, konnte er nicht mehr im Dunkeln schlafen. Lebenslang. Einmal erwähnt er, dass Kunst die beste Vorbereitung auf den Tod sei. Die Aufgabe des Künstlers sei, zu retten, den Blick vor der Verwesung zu retten. So bei den ägyptischen Skulpturen oder in den Mumienporträts aus der Nekropole von Fayum. Und so in seinen gemalten Porträts. In der "Vitalität der Blicke" vermeinte er so etwas wie "ewiges Leben" zu sehen. Paradoxerweise empfand er sich selber als einen Blinden, der "seinen Weg spürt in der Nacht".

Nach 1947 entstanden Köpfe, die grausig aus dem Rahmen fallen: "Kopf auf Stab" und "Die Nase", jene zwei erschütternden Schreie inmitten des Gesamtwerks. Ein Hiob ohne Gott und ein gefährlicher Narr. Kreaturen, die ängstigen. Wie sein Freund und Malerkollege Francis Bacon wollte er das Schreckliche sichtbar machen, das in den Köpfen der Spezies Mensch haust.

Winzig, faszinierend schmal

Die zuerst winzigen, später in eine faszinierend schmale Länge gezogenen Skulpturen, sie erklären sich - vielleicht! - aus den zahlreichen Äußerungen Giacomettis, dass es ihm vor allem um den Raum gehe, der um eine Skulptur herum entstehe. Je geringer das Volumen einer Figur wäre, umso mehr Raum könne sie dem Raum schaffen. Während der Urtrieb des Bildhauers die gestaltgebende Ausdehnung ist, ist Giacomettis Prinzip die Subtraktion, das Zusammenziehen, ähnlich dem Zimzum in der Kabbala: Gott ist Schöpfer, indem er sich zusammenzieht, damit um ihn herum entstehen könne, alles was ist. Giacomettis Figuren, geschaffen nach 1945, stehen nicht im Raum, sondern sie laden den Raum ein, sich zu "entfalten". Entäußerung. Demut. Kenosis. Erst wer das einmal gespürt und begriffen hat, darf sich wirklich von Giacometti ergriffen nennen.

Stundenlanges Sitzen der Modelle

Was wollte Giacometti mit seiner Kunst? Mit seinen "stehenden Frauen", die gefroren in Hoheit, Verlangen und sublimiertem Schmerz im Raum stehen. Mit den "schreitenden Männern", die begegnungsfern aufeinander zumarschieren und doch großen Schrittes - doch wegen der Erdenschwere an den Füßen vergeblich - das Weite suchen. Mit seinen Köpfen, Büsten, Halbfiguren. Mit den grauschwarzen Porträtbildern, für die er den Bruder Diego, seine Frau Annette, die Geliebte und ausgewählte Freunde zwang, stundenlang still zu sitzen, tagelang. Liegt die Antwort darin, wenn er zu erklären versucht, dass er im Besonderen eines Gesichts das Allgemeine sichtbar machen möchte? Den Menschen, gebildet aus allen Menschen, und wert wie sie alle, und wert wie jeder von ihnen. So steht es bei Jean-Paul Sartre im letzten Satz seiner "Wörter".

Am 18. August 1965 schrieb Gisèle Lestrange, selbst hervorragende graphische Künstlerin, an ihren Mann Paul Celan aus der Kunststadt Saint-Paul-de-Vence über die Giacometti-Sammlung im Museum der Stiftung Maeght. Ihr Brief gibt den Eindruck wieder, den Giacomettis Werk auf sensible Zeitgenossen vor fünfzig Jahren gemacht hat: "Mon chéri, wenn Du wüßtest , diese fadenförmigen Figuren Alles das wunderbar, erschütternd auch. Die Leere zwischen all dem, die Leere. Vision eines Alptraums, der Realität, schwierig, empörend, abstoßend, anziehend und ganz nahe, verschlossen, offen. Wie soll man es sagen?" Paul Celan antwortet ihr sanft spöttisch: "Man müßte vielleicht auf Stelzen gehen, wie diese Giacometti-men, aber auch da, nicht wahr, landet man in den Stiftungen. Also umschlinge ich Sie mit einem nicht allzu fadenförmigen Arm Paul".

Nach Giacomettis Tod erschien das legendäre Atelier wie ein geisterhafter Abstellraum des vom Schöpfer empfundenen "wiederholten Misserfolgs". Wie Lazarus vor der Auferweckung harrten unfertige Tonbüsten, umwickelt mit Tüchern, die den Ton feucht halten sollten, dass Giacometti hätte weiterarbeiten können. Bruder Diego fuhr noch in der Nacht nach Albertos Tod nach Paris, um im Atelier die letzte Arbeit vor jedem möglichen Verlust zu bewahren: der Skulptur eines Freundes, der Giacometti zeitlose priesterliche Würde verliehen hat. Diego ließ sie gießen und auf das Grab Albertos stellen, wo sie sehr bald gestohlen worden ist.

Unmittelbar nach Giacomettis Tod befragte man auf dem Montmartre junge Leute. Die Antworten sind in einem berührenden Film aufbewahrt. "Er hat uns geholfen, gerechter zu denken", sagte eine Frau. "Er konnte einem einfach einen glücklichen Moment schenken, nur einen Blick!" Worte von Giacometti mit diesem unvergessenen Lächeln: ein Geschenk. Das hatte er für jeden Menschen. Jeden.

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