Wider die "beschädigte Vernunft"

19451960198020002020

Für den Soziologen Oskar Negt kommt den Schulen und Universitäten im europäischen Einigungsprozess eine zentrale Rolle zu. Umso mehr beklagt er deren betriebswirtschaftliche Verzweckung.

19451960198020002020

Für den Soziologen Oskar Negt kommt den Schulen und Universitäten im europäischen Einigungsprozess eine zentrale Rolle zu. Umso mehr beklagt er deren betriebswirtschaftliche Verzweckung.

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn Oskar Negt auftritt, dann vermittelt sich immer auch ein Stück deutscher Zeit- und Geistesgeschichte. Der 80-jährige Philosoph und Soziologe blickt auf eine Kindheit in Ostpreußen zurück; 1945 musste er als Kind über die Ostsee nach Dänemark flüchten. Dass das Friedensprojekt Europa in seiner Lebensgeschichte eine zentrale Rolle spielt, hat er immer wieder betont. Ebenso prägend war für ihn der Aufbruch aus der geistigen Enge der Nachkriegszeit und die Nähe zur Protestbewegung um 1968, die er rückblickend in einer Mischung aus persönlicher Erinnerung und "politisch-soziologischen Analysen" reflektiert hat ("Achtundsechzig"; 1995). Das Bild der Universität als Elfenbeinturm ist dem Ex-Assistenten von Jürgen Habermas, der bei Theodor W. Adorno promoviert hat, fremd: Seit 50 Jahren zählt er zu jenen Intellektuellen, die mit Leidenschaft in aktuelle politische Debatten einzugreifen pflegen.

Plädoyer für ganzheitliches Lernen

Wenn Oskar Negt heute über Europa nachdenkt, dann vermittelt sich viel Sorge, aber auch Zuversicht. Die anhaltenden Auswirkungen der Krise, die geringe EU-Wahlbeteiligung, die vom "Rohstoff Angst" genährten Erfolge rechtspopulistischer Parteien, die Bewältigung des Flüchtlingsstroms über das Mittelmeer und nicht zuletzt die Entwicklung der Schulen und Universitäten - all das fand Eingang in seinen Befund über Europa, den der emeritierte Professor für Sozialwissenschaft kürzlich bei den "Wiener Vorlesungen" im Festsaal des Wiener Rathauses präsentierte.

Wer Europa wie Negt als "sozialen Lernstoff" und als "großes Lernprojekt" begreift, dem werden Bildung und Wissenschaft gleichsam zur Herzensangelegenheit. Dazu passt, dass sich Negt neben seiner universitären Tätigkeit über zehn Jahre auch als wissenschaftlicher Leiter der Glocksee-Schule, einer 1974 gegründeten "Reformschule", engagiert hatte. Einige grundsätzliche Überzeugungen des einst höchst umstrittenen Schulprojekts haben auch heute noch Bestand. Dazu zählt die Auffassung, dass beim Lernen immer der ganze Mensch beteiligt ist - auch auf einer emotionalen und sozialen Ebene.

Nach wie vor sei das kognitive Lernen zu dominant, so der Sozialwissenschafter; erst seit Kurzem rücke auch die "emotionale Leistungsfähigkeit", der geschickte Umgang mit Gefühlen, in den Vordergrund. "Die Schule auf eine rein kognitive Anstalt zu reduzieren, bedeutet, unsere Gefühlswelten einfach auszuklammern; diese aber drücken sich dann anderswo in möglicherweise unerwünschter Form aus, zum Beispiel in aggressiven Impulsen", ist Negt, zurzeit Gastprofessor am Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften (IFK) in Wien, überzeugt - eine These, deren Bedeutung vor dem Hintergrund jüngerer neurowissenschaftlicher Erkenntnisse jedenfalls bestätigt wurde. Dass den Schulen im europäischen Einigungsprozess eine entscheidende Rolle zukommt, hat er in seinem jüngsten Buch "Philosophie des aufrechten Ganges" (2014) ausführlich argumentiert. In dieser "Streitschrift für eine neue Schule" kritisiert er das betriebswirtschaftliche Diktat, dem sich die Bildungsinstitutionen heute zunehmend unterwerfen würden und dessen Ziel der allseits verfügbare, "marktkonforme" Mensch sei.

Das gilt laut Negt auch für die Universitäten im Zeitalter des Bologna-Prozesses, der seit den 1990er-Jahren darauf abzielt, einen gemeinsamen Europäischen Hochschulraum umzusetzen und die Attraktivität der EU als Hochschul- und Forschungsstandort zu steigern. Dies habe allerdings zu einer Verschulung und Bürokratisierung der Universitäten geführt, kritisiert Negt: "Der Bologna-Prozess besteht darin, dass ein betriebswirtschaftliches Denken die Lernprozesse zerreißt, wobei vorwiegend ein verständnisschwaches Lernen gefördert wird. Das Leben an der Universität, geprägt durch das Sammeln von Punkten und Abschlüssen, ist zum reinen Examensgeschehen geworden." Und auch an den Universitäten würden Einsichten in die soziale und emotionale Dimension des Lernens noch viel zu wenig berücksichtigt.

Bildung als präventive Arbeit

Demgegenüber pocht Negt seit Jahrzehnten beharrlich auf kritische Urteilskraft, Kreativität und Eigensinn. Bildung und Wissenschaft stehen bei ihm auch im Zeichen der Prävention kollektiven Unglücks, wie er es in seiner Kindheit am eigenen Leib miterlebt hat. Bildung ist für ihn eine "Vorratsbildung": Die große europäische Bildungsidee lebe davon, dass Erfahrungen wachgehalten werden.

Negts Kritik an den neoliberalen Ideologien nährt sich aus der Sorge, dass angesichts einer überbordenden Individualisierung die Ideen des Gemeinwesens und der Solidarität abhanden kommen könnten - und damit zugleich auch die demokratische Gesellschaftsordnung. Die Demokratie sei eine "Lebensform", die möglichst frühzeitig durch politische Bildung erlernt werden muss, sagt Negt, der mit dem Autor und Filmemacher Alexander Kluge ebenso zusammengearbeitet hat wie mit dem ehemaligen SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Seiner Idee der "Schutzschirme für Schulen" würde er daher durchaus eine Demokratie stabilisierende Wirkung beimessen.

Wer Oskar Negt heute zuhört, erhält einen kritischen Rundumschlag präsentiert, gespeist aus der Sorge um Europa: "Wir müssen die humanen Ressourcen der europäischen Geistesentwicklung, vom antiken Griechenland bis zum Christentum, wieder aktualisieren, um aus der Enge der betriebswirtschaftlich beschädigten Vernunft herauszukommen und den Geist der europäischen Einigung wieder zu beflügeln."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung