Wie das Wir funktioniert

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Für "The Age of Innocence" ("Zeit der Unschuld") erhielt Edith Wharton 1921 den Pulitzerpreis. Andrea Ott hat den Roman nun neu und erfrischend übersetzt.

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Für "The Age of Innocence" ("Zeit der Unschuld") erhielt Edith Wharton 1921 den Pulitzerpreis. Andrea Ott hat den Roman nun neu und erfrischend übersetzt.

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Lassen Sie sich nicht abschrecken, weder vom Cover, das eine junge melodramatisch blickende junge Frau mit geneigtem Kopf zeigt, noch vom Zitat von Paul Ingendaay auf der Rückseite des Buches: "Selten hat die Melancholie, die in der langsam verblühenden Liebe liegt, süßer gebrannt." Dieses Buch erzählt zwar tatsächlich die Herz-Schmerz-Geschichte einer unmöglichen Liebe. Doch der Roman "Zeit der Unschuld" ("The Age of Innocence"), für den Edith Wharton 1921 den Pulitzerpreis erhalten hat, ist nicht wegen Herz-Schmerz lesenswert.

Edith Wharton, geboren am 24. Jänner 1862, wirft in ihrem 1920 erschienenen Roman einen Blick ins New York der 1870er-Jahre, und zwar in die High Society dieser Stadt, in jene Welt der Reichen und Mächtigen, in der die Autorin selbst aufgewachsen ist und über die sie einmal böse sagte: "Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr habe ich mit keinem einzigen wahrhaft intelligenten Menschen ein Wort gewechselt."

Wie ein Stamm funktioniert

Dieses New York zerfällt in zwei Gruppen, so kann man in Whartons Roman lesen: in jene Sippe, die Wert auf Essen, Kleidung und Geld legt, und jene, die Reisen, Gartenbau und gute Literatur schätzt. "Man kann eben nicht alles haben."

Derartige Spitzen finden sich zuhauf. Vor allem aber betrachtet Wharton die Welt ihrer Herkunft mit dem Blick einer Anthropologin, die versucht zu erkunden, wie ein Stamm funktioniert. Und wie funktioniert der Stamm der New Yorker Upper-Glass der 1870er-Jahre? Vor allem so: Unerfreuliches wird ignoriert.

"In Wirklichkeit lebten sie alle in einer gewissermaßen hieroglyphischen Welt, in der die wahren Dinge weder gesagt noch getan oder auch nur gedacht wurden, vielmehr wurden sie lediglich durch eine Anzahl willkürlicher Zeichen angedeutet." Die Hieroglyphen dieser Welt erzählt Wharton teils minutiös, selten sind Kleider, Essen und Interieur so detailliert (und in langen Sätzen) beschrieben worden, Opernbesuche und Ballereignisse, Sommerurlaube, in denen jede Stunde organisiert ist -Rituale, die dem Stamm der oberen Zehntausend helfen, sich zu stabilisieren. Fremdes stört. Etwa diese Verwandte, Ellen Olenska, die lange in Europa gelebt und einen polnischen Graf geheiratet hat, allein zurückgekommen ist und sich nun sogar scheiden lassen will. Was für ein Skandal droht da! Denn: "Unsere Gesetze sind mit Scheidungen einverstanden, unsere gesellschaftlichen Konventionen nicht."

Das sagt der Anwalt Newland Archer, der allerdings nicht lange vor diesem Gespräch noch die Meinung vertreten hat, "Frauen sollten frei sein, so frei wie wir". Doch wer wie er meint, dass anständige Frauen diese Art von Freiheit ohnehin nie fordern würden, kann sie ihnen leicht theoretisch zugestehen. Nun aber wird's ernst und betrifft auch die Familie, in die er bald einheiraten wird. Newland kneift - und rät Ellen von der Scheidung ab.

Dabei ist er wohl längst verliebt in diese so andere Frau, die sich nicht um die hiesigen Konventionen schert, die mit nicht genehmen Leuten verkehrt, die freimütig ausspricht, was sie sich denkt. Sie ist so anders als Newlands zukünftige Ehefrau May. Newland hegt zunehmend den Verdacht, Mays Unschuld wäre künstlich erzeugt. "Ihn bedrückte diese von Müttern, Tanten, Großmüttern und längst verstorbenen Ahnfrauen ausgeheckte und schlau fabrizierte künstliche Reinheit, die so sein sollte, wie er sie wünschte, und auf die er ein Recht hatte, damit er sich nach Herrenart daran vergnügen und sie wie eine aus Schnee geformte Skulptur zerstören konnte."

Produkte der Gesellschaft

So sieht eine Schriftstellerin im Jahr 1920 scharfsinnig die Frauen als "Produkte dieser Gesellschaftsordnung". Der Mann zeigt sich allerdings nicht weniger als ein solches Produkt, nur merkt er es erst spät. Und wenn er von seiner Verlobten May denkt, hinter ihrem "Vorhang" wäre das Nichts, dann täuscht er sich.

May zieht nämlich - für ihn unsichtbar - ihre Fäden. Und eines Tages wird bei einem prunkvollen Essen Gräfin Ellen Olenska endgültig nach Europa verabschiedet und Newland auf einmal merken, dass er und Ellen seit Monaten Gegenstand stiller "Beobachtung und geduldigen Lauschens" waren, "dass die Trennung von ihm und seiner Komplizin auf undurchsichtigem Wege betrieben worden war".

Auch das prächtige Dinner steht für etwas anderes, ist unausgesprochen ein Ritual "nach dem alten New Yorker Kodex", nämlich "die Versammlung der Sippe um eine Verwandte, die demnächst aus der Sippe ausgeschlossen" wird. Die "Ausländerin" wird derart freundlich verabschiedet - "Das war die Methode, wie man im alten New York jemanden 'ohne Blutvergießen' ums Leben brachte" -, um bald wieder dort zu sein, wo sie herkam, in Europa. Die Gesellschaft, im Großen des Clans ebenso wie im Kleinen der Familie, ist fürs erste stabilisiert. Die Gefahr ist gebannt. Die Konvention hat gewonnen. Dem Freiheitsdrang wird eine Absage erteilt. Aus Newlands Floskeln, das Individuum müsse dem kollektiven Interesse eben geopfert werden, wird Wirklichkeit, die ihn selbst betrifft. Am triumphierenden Glitzern in den Augen seiner Frau May erkennt Newland, dass er sie wohl unterschätzt hat.

Sezierender Blick

Es ist dieser scharfsichtige, sezierende Blick auf gesellschaftliche Mechanismen, der diesen Roman auch im Jahr 2016 zu einer faszinierenden Lektüre macht - und der in der kostümprächtigen und textnahen Verfilmung von Martin Scorsese aus dem Jahr 1993 fast verloren geht. Da drängt sich zu sehr das Melodramatische in den Vordergrund, das freilich auch im Roman zu spüren ist, vor allem wegen der Erzählweise, die an die großen Romane des 19. Jahrhunderts erinnert. Kaum zu glauben, dass zur selben Zeit, als Whartons Roman erschien, Autorinnen und Autoren wie Gertrude Stein oder James Joyce so ganz andere Literatur schrieben. Von einem derartigen Aufbruch spürt man erzähltechnisch in Whartons Roman nicht viel. Und das, obwohl Wharton wie Stein in Frankreich lebte und Amerika nur mehr aufsuchte, um 1923 die Ehrendoktorwürde der Yale University entgegenzunehmen.

Whartons Ironie aber ist treffsicher und beißend, von Andrea Ott wurde sie nun frisch und teils auch zugespitzt übersetzt. Und die von Wharton aufgeworfenen Fragen hinsichtlich des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, aber auch ihre Auseinandersetzung mit der Konstitution des "Wir" und dem Umgang mit dem "Anderen" bleiben aktuell. Wer in dieses New York kommt, muss die Lebensweise respektieren, hat sich zu verhalten wie die anderen, darf nicht auffallen. Ellen hat mit der Weitherzigkeit von New York gerechnet und deswegen Europa verlassen, doch New York entpuppt sich als der Ort, "wo sie am allerwenigsten auf Nachsicht hoffen durfte".

Obwohl es der Gesellschaft am Ende gelingen wird, das störende "Element" zunächst zu entfernen, wird Veränderung trotz allen Festhaltens an Traditionen nicht ausbleiben. Das zumindest deutet Wharton am Ende auch noch an.

Zeit der Unschuld

Roman von Edith Wharton

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Ott. Manesse 2015

391 Seiten, gebunden, € 27,80

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