Wie der Autor seinen Leser einfängt

19451960198020002020

Amos Oz analysiert auf vergnügliche Weise Roman-Anfänge von Thomas Mann bis Gabriel Garcia Marquez, von Nicolai Gogol bis Elsa Morante.

19451960198020002020

Amos Oz analysiert auf vergnügliche Weise Roman-Anfänge von Thomas Mann bis Gabriel Garcia Marquez, von Nicolai Gogol bis Elsa Morante.

Werbung
Werbung
Werbung

Vor dem Schreiben des ersten Satzes, dem Beginn eines Artikels, kann einem schon grauen. Wenn er nicht paßt, schleppt sich der Rest dahin und keiner liest den Schluß, denn die liebe Leserin oder der lieber Leser haben längst das Weite gesucht und lesen etwas anderes. Wer den Einstieg nicht schafft, fliegt raus, wird nicht zur Kenntnis genommen. Und erst bei einem Buch!

Aber lesen Sie doch einmal die folgenden Zeilen: "In der Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang" warf.

So beginnt Theodor Fontanes "Effi Briest". Wer empfindet es nicht als langatmig? Trotzdem wurde Fontane berühmt, nicht zuletzt dank "Effi Briest". Beim ersten flüchtigen Lesen könnte man bei diesem Romanbeginn auch denken: "Wie glücklich sind doch diese Reichen!" Aber weit gefehlt. In diesen wenigen Zeilen charakterisiert Fontane bereits die beengte Welt der jungen Effi Briest, noch bevor die Figuren, der gesellschaftliche Hintergrund, die Epoche, die Verbote geschildert werden: Wir haben es mit einer erstarrten Welt zu tun, in der es nur eine Bewegung gibt, nämlich das unmerkliche Fortschreiten des Schattens.

Der israelische Autor Amos Oz hat in seinen Romanen die israelische Gesellschaft analysiert, sie waren ein Plädoyer für das Zusammenleben von Juden und Arabern. Sein jüngstes Buch ist ein Plädoyer für die Lust des Beginnens, er entwickelt darin seine Gedanken zur Poetik des Anfangs.

"Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne" heißt es in Goethes "Wilhelm Meister". Der Anfang ist aber in unserer Gesellschaft längst ein lästiges Übel. Meisterschaft ohne Anfang ist das Motto. Nicht warten, sondern gleich zur Perfektion.

Auch für viele Leserinnen und Leser sind heute die ersten Seiten eines Romans nur eine notwendige, aber zu lange Brücke, die es zu überwinden gilt, um zum Geschehen vorzudringen.

Amos Oz hingegen zeigt anhand von zehn literarischen Beispielen, daß es bereits in den ersten Zeilen von Romanen den ganzen Kosmos des Geschehens zu entdecken gilt. Für seine Poetologie des Beginnens, die auf seiner Lehrtätigkeit in Kibbuz-Schulen und an der Universität basiert, wählt er Klassiker und Zeitgenossen, und mit jedem Beispiel verfestigt sich seine These.

Tschechows Hündchen "Am 25. März ereignete sich in Petersburg ein außerordentlich merkwürdiger Vorfall. Der Barbier Iwan Jakowlewitsch, der auf dem Wosnesenskij-Prospekt wohnte (sein Familienname war verlorengegangen, und selbst auf seinem Schild, das einen Herrn mit eingeseiftem Kinn und die Aufschrift: ,Auch Aderlaß' zeigte, stand er nicht vermerkt), der Barbier Iwan Jakowlewitsch erwachte also ziemlich spät..."

So beginnt Nikolaj Gogols Geschichte "Die Nase", in der selbige ihren Besitzer verläßt und, in eine goldgestickte Uniform gekleidet, zu einer Stadttour aufbricht. Die bürokratische Sprache der ersten Zeilen macht klar, daß hier eine "ziemlich ehrwürdige Wirklichkeit geschildert wird, die bedeutungsvoll dreinschaut und von bürokratischer Dümmlichkeit und zwanghaftem Beamtengehabe befallen ist." Nicht zu vergessen die "anarchistischen Füchse", die wie die Einschübe ohne Unterlaß an allen Gepflogenheiten knabbern.

Amos Oz weiß, wovon er schreibt. Der Anfang ist auch für ihn das Schwierigste. Das weiße Blatt Papier liegt wie eine Provokation auf dem Schreibtisch. Da er jedoch viel gelesen hat, weiß er sich mit Beispielen aus der Vergangenheit und Gegenwart zu trösten.

"Fast jede Erzählung ist eigentlich ein Werben um das Hündchen, das einen vielleicht der Dame näherbringt", wie in Tschechows Erzählung "Die Dame mit dem Hündchen", in der ein gewisser Gurow einen Hund lockt, der kommt und knurrt und die Dame errötend sagen läßt: "Er beißt nicht". Nach der Frage, ob er ihm einen Knochen geben darf, ist ein Faden geknüpft "für Gurow wie für Tschechow, das Werben geht los, und die Geschichte nimmt ihren Lauf."

Mit den Schwierigkeiten seiner Kollegen als Sicherheitsnetz kann Oz auch am eigenen Beispiel zeigen, wieviele Möglichkeiten sich bieten, wenn eine Geschichte über eine Frau aus Naharia erzählt werden soll, die erfahren hat, daß in Griechenland eine Cousine lebt, von deren Existenz sie bisher nichts ahnte: "Eine Geschichte anzufangen bedeutet fast immer, eine vertragliche Beziehung zwischen Autor und Leser anzuknüpfen". Bloß ist Vertrag nicht gleich Vertrag, es gibt Geheimverträge, bei denen der Autor mit dem Leser ein verschmitztes Augenzwinkern wechselt, ohne daß es die Protagonisten merken. Amos kennt sie anscheinend alle, diese Verträge, auch den trügerischen Vertrag, wenn der Leser meint, bereits alle Geheimnisse zu kennen, um erst später zu merken, daß er selbst der Beobachtung und Lächerlichkeit preisgegeben wird, wie zum Beispiel in Thomas Manns "Der Erwählte".

Zugabe zum Eis am Stiel Da wäre auch noch der Vertrag, der in eine "raffinierte Honigfalle" lockt, wo haarsträubende Abenteuer angepriesen werden, aber durchaus noch ganz andere Delikatessen winken: "Wie jemand, der ein Eis am Stiel kauft und dabei eine Weltreise gewinnt."

Genau das ist es, was die Leser fesselt. Die Freude und Lust, Neues zu entdecken, bedingt ein gewisses hastiges Hecheln, doch zu groß ist die Neugierde, zu erfahren, wie Elsa Morante im Roman "La Storia" es schafft, und Garcia Marquez in "Der Herbst des Patriachen". Amos Oz führt vor Augen, daß der Leser, der mit "scharfem Interpretationswerkzeug" an diesen ersten, nicht endenwollenden Satz herangeht, leicht etwas verpassen wird, "was der Leser, der mit schallendem Gelächter kommt, findet - und umgekehrt." Mit seiner Anfangspoetik macht Oz alle, die ihm folgen, zu Jüngerinnen und Jüngern des Anfangs, die auch wieder dorthin zurückkehren, wenn sie das Werk "vollendet", sprich: das Buch zu Ende gelesen haben, er macht aber auch vertraut mit hierzulande Unbekannten wie zum Beispiel den israelischen Autoren Jaakow Shabtai oder S. Yishar. Oder muß es nicht interessieren, wenn Yishars Roman "Auftakte" mit den Worten beginnt: "Und wo war der erste Ort? Der allererste? Also der erste Ort, wenngleich ohne jeden Beleg, war orangefarben, orange durch und durch, goldorange, tieforange."

Shabtais Erzählung "Der gestreifte furchteinflößende Tiger" verkündet am Beginn: "Ich habe einen Onkel in Monaco. Zuletzt gingen aber Gerüchte um, er sei in Lissabon oder hätte sich dort in der Nähe niedergelassen, um eine Farm zur Aufzucht von Kampfhähnen einzurichten. Die letzte eindeutige Nachricht über ihn erhielten wir vor drei Jahren von meiner Tante Idel aus Buffalo..." Der Leser wird eingeladen, "den Blick von der jüdisch-aschkenasischen Geographie auf eine exotische Schattengeographie zu lenken", in der dieser mysteriöse Onkel schwebt. Mit Oz sind wir sicher, daß es Shabtai nicht darum ging, zu zeigen, daß der König nackt ist. "Im Gegenteil, er fesselt (den Leser) mit einer Fülle von Kostümen und der allen Beteiligten gemeinsamen Sehnsucht der Entwurzelten, die hier hinter sämtlichen Verkleidungen, sämtlichen puritanischen Grundsätzen noch (...) hervorlugt".

Die Analyse von Oz macht Lust auf einen Neubeginn und läßt den Vorsatz reifen, bei den nächsten Romanen entspannter und behutsamer die literarische Tür zu öffnen. Doch wenn der ungestüme Wissensdurst so groß wird, daß der Genuß des Anfangs dabei untergeht, braucht niemand ein schlechtes Gewissen zu haben, denn die Poetik des Beginns soll ja niemandem die Lust aufs Lesen verleiden - und zu einem allzu schnell gelesenen Anfang kann man ja zurückkehren.

Literatur, stellt Amos Oz fest, ist mehr als ein Spiegel der Gesellschaft. Warum, so fragt er, "sollte jemand, der nur in den Spiegel gucken will, überhaupt Bücher lesen?"

So fangen die Geschichten an Von Amos Oz, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1997 166 Seiten, geb., öS 277,

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung