"Wie die Zeit verrinnt"

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Ein Porträt zum 100. Geburtstag des deutschen Schriftstellers Stefan Andres.

Vor jedem Springbrunnen machte er halt. Bezaubert betrachtete er den Wasserstrahl. ,Still', sagte er, ,hört, wie die Zeit verrinnt!'" Die römische Germanistin Carla Tagliarini notierte diesen Satz in ihrem Text zum Tod des deutschen Schriftstellers Stefan Andres in Erinnerung eines Spaziergangs in der römischen Villa Doria Pamphili.

Wer war dieser Stefan Andres? Er war ein großer Humanist, Utopist, suchte als Anti-Aufrüstungs-und Anti-Atom-Aktivist zumindest Deutschland mitzuverändern. Er war ein kritischer Christ, ein großartiger Formulierer und Fabulierer, ein Barockmensch und ein Mensch des 20. Jahrhunderts.

Zu Unrecht vergessen

Stefan Andres, der am 26. Juni 1906 in Breitwies bei Trier als Müllerssohn geboren wurde und am 29. Juni 1970 in Rom starb, existiert 2006 nur mehr mit drei Buchtiteln: Mit dem autobiographischen Knaben im Brunnen, mit Wir sind Utopia und El Greco malt den Großinquisitor in Neuauflagen des Deutschen Taschenbuch Verlags; dazu kommen zwei Hörbücher mit Utopia und El Greco. Stefan Andres ist offenkundig kein Autor mehr, der über germanistische Pflicht hinaus interessiert.

Warum ist das so? Man könnte argumentieren, so zu schreiben und zu erzählen wie er, mit genauen Schilderungen von Landschaften und Stimmungen von Menschen mit Gipfeln und Abgründen, sei nicht mehr modern. Vielleicht liegt es auch daran, dass er als christlich orientierter Schriftsteller gilt und auch deshalb mit Desinteresse gestraft wird. Dabei waren die Auflagenzahlen zu seinen Lebzeiten mehr als beachtlich, er war einer der erfolgreichen Autoren der deutschen Literatur Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Die Gesamtauflage seiner Werke hat bis zu seinem Tod die Zahl von 1,5 Millionen Exemplare weit überschritten; darin sind die in zahlreichen Sprachen erschienenen Übersetzungen nicht enthalten. Setzt man dagegen Zahlen wie die 40 Millionen-Auflage in 44 Sprachen für den da Vinci Code, so stellt sich die Frage nach den Ursachen, ohne dass man sie aufs Erste zu beantworten vermöchte. Natürlich haben Bücher und Poeten ihre Schicksale, und nach dem Propheten Kohelet hat alles seine Zeit.

Nur: Vergleicht man die Menschen, wie sie in totalitären Systemen - Nationalsozialismus, Kommunismus, Faschismus oder auch Inquisition in der römischen Kirche - von Stefan Andres geschildert werden, so sind sie "außengeleitete" Typen, Menschen, die im Dienst einer Ideologie "funktionieren", Massenmenschen, in denen sich Freiheit, Unfreiheit und Macht widersprechen: Ein Szenario, wie es in den Novellen Wir sind Utopia aus der Zeit des spanischen Bürgerkriegs, El Greco malt den Großinquisitor oder auch im erst 1966 erschienenen Roman Der Taubenturm aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, mit Variationen, immer wieder berührend und packend geschildert wird. Freiheit und Gewissen waren die großen Themen des Stefan Andres. Doch beim modernen Stichwort "Globalisierung", zur Zeit von Andres noch unbekannt, sieht man bei einiger Sensibilität erschreckende Parallelen: auch hier findet sich kaum ein Widerstand gegen dieses neue weltweit über die Menschen geworfene Netzsystem. Die Menschen leben und arbeiten "passgenau", von Gewissenszweifel, wie sie Andres in seiner wohl stringentesten Arbeit Utopia analysiert und abhandelt, ist heute nirgendwo mehr die Rede. Ebenso schildert Andres die Tapferkeit im 1935 erschienenen El Greco, wo sich in der Wahl der Farben bei der Porträtsitzung des Inquisitor-Kardinals ein Disput über die "Wahrheit, wie Gott sie befiehlt" entspinnt, der dem Maler das letzte Quantum Mut abfordert; denn die Inquisition veranstaltet eben eine Prozession zum Scheiterhaufen. Und schließlich Der Taubenturm von 1966 - die Geschichte einer Flucht mit beständiger Furcht vor Entdeckung durch deutsche Soldaten in der italienischen Emigration. Wobei wohl das erstaunlichste Phänomen ist, dass Wir sind Utopia noch nach Beginn des Zweiten Weltkriegs in der Frankfurter Zeitung in Fortsetzungen erscheinen konnte, zu einer Zeit, als man Andres schon längst aus der Reichsschrifttumkammer ausgeschlossen hatte.

Andres war bereits 1937 ins Exil nach Positano gegangen - seine Frau Dorothee Freudiger, bekannter als "Dotti", war Jüdin. Später, zur Zeit Hitlers und Mussolinis, lebte die Familie unter ärmlichsten Verhältnissen in Rom. 1950 waren die Andres wieder nach Deutschland zurückgekehrt und hatten sich in Unkel am Rhein niedergelassen. 1961 zog Andres endgültig nach Rom.

Kritischer Christ

Der philosophisch-religiöse Hintergrund des Schriftstellers ist vom Christentum geprägt, er hat vom Vater das Bild des gütigen Gottes mitbekommen, konnte mit dem Hölle-Teufel-Verdammnis-Katholizismus nichts anfangen, er war nicht wundergläubig und seine entscheidende These lautet: "Das einzige Wunder, das Gott wirkt, ist dies: dass er unsere harten, eigensüchtigen Herzen zu Taten der Liebe und Versöhnung bewegt."

Das Böse sieht er in seiner neuplatonischen Einstellung, die er in seinem letzten Roman Die Versuchung des Synesios ausführlich, fast lehrhaft ausbreitet, als Negation des Guten. Nicht hat Andres, wie ihm von einigen Kritikern unterstellt wurde, einem Pantheismus angehangen (Gott ist alles und alles ist Gott), sondern viel eher einen differenzierenden Panentheismus (Das All ist in Gott, ohne in ihm aufzugehen) im Sinne eines Teilhard de Chardin vertreten.

Unter griechischen Fischern ging früher ein schönes, dem Humanisten und Freund Andres entsprechendes Sprichwort um: "So lange einer von uns lebt, leben wir beide." Dennoch bleibt bestehen: "Still, hört, wie die Zeit verrinnt!"

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