"Wie ein zweiter Körper"

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Mit der digitalen Selbstvermessung erreicht das Projekt der Moderne eine neue Dimension. Soziologe Stefan Selke über das kulturverändernde "Lifelogging".

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Mit der digitalen Selbstvermessung erreicht das Projekt der Moderne eine neue Dimension. Soziologe Stefan Selke über das kulturverändernde "Lifelogging".

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Die FURCHE bat den deutschen Forscher bei der ÖAW-Jahreskonferenz des Instituts für Technikfolgen-Abschätzung in Wien zum Gespräch.

DIE FURCHE: Die digitale Selbstvermessung boomt. Was steckt aus soziologischer Sicht dahinter?

Stefan Selke: In immer mehr Lebensbereichen werden Leistungsdaten erhoben, und das immer genauer und kurzfristiger. Diese Daten-Aura, mit der wir uns umgeben, ist wie ein zweiter Körper, der rationale Aussagen über uns trifft, etwa zu unserer Ernährung oder Gesundheit. Jeder Mensch wird immer differenzierter als Individuum beurteilbar. Wir können uns nicht mehr in der Gruppe verstecken. Und die Datensammlungen sind nicht neutral: In ihnen verbergen sich Wunschvorstellungen über den idealen Körper, den idealen Arbeitnehmer etc. Sie werden somit zum Spiegel für ein Zuviel oder Zuwenig. Wer die falschen Werte hat, wird wohl mit Nachteilen rechnen müssen.

DIE FURCHE: Also die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen?

Selke: Die smarten Technologien sind in smarte Ideologien eingebettet. Sie sprechen von Fortschritt und einem besseren Leben, verschweigen aber die Kehrseite der Medaille, nämlich dass nicht alle gleichermaßen an diesen großen Versprechungen partizipieren werden. Hier wird es eine große Enttäuschung geben.

DIE FURCHE: Selbstvermessung ist für Sie ein Vorbote eines neuen gesellschaftlichen Organisationsprinzips. Inwiefern?

Selke: Es werden jetzt numerische Werte, Kennzahlen, Rankings, Benchmarks definiert, die sagen, du bist drinnen oder draußen. Das Datensammeln wird mit Belohnung und Bestrafung verknüpft. Denken Sie an Versicherungen, die Rabatte geben, wenn die Kunden ihre Daten verfügbar machen. DIE FURCHE: Gibt es denn überhaupt noch Bereiche, die sich dieser Technologie-getriebenen Rationalisierung widersetzen? Selke: Das ist so wie nach dem Ort zu fragen, wo es noch keine Werbung gibt. Ich dachte immer, das wären die Friedhöfe, bis ich auch dort auf Werbung gestoßen bin. Selbst Trauer kann mit digitalen Technologien rationalisiert werden. Es gibt virtuelle Friedhöfe und Systeme der Erinnerungsarbeit, um effizienter zu trauern. Das zeigt, dass der Optimierungsgedanke alle Ebenen durchdringt. Das gilt auch für die Liebe, die heute komplett rationalisierbar ist, von den Online-Partnerbörsen bis zu den Matching-Algorithmen. Und in Kalifornien ist eine neue Berufsgruppe entstanden: Die "Wantologists" beraten Sie, was Sie wollen sollen - natürlich ganz rational auf der Basis von Daten und Algorithmen.

DIE FURCHE: Das klingt ja nach einer fast schon religiös anmutenden Datengläubigkeit ...

Selke: Max Weber hat die Grundidee der Moderne so zum Ausdruck gebracht: Wir wissen nicht alles, aber wir wissen, dass wir prinzipiell alles wissen können. Das wird nun mit "Big Data" immer weiter realisiert. Und das ist eine Grundlage der smarten Ideologien: Wir glauben, alles abbilden, in ein technisches Modell überführen zu können. Diese Ideologien sind voll mit Heilsversprechungen. So werden heute auch die Ressourcen für die Forschung rekrutiert.

DIE FURCHE: Sie meinen, die Forschungsförderer lassen sich von allzu großen Versprechungen blenden?

Selke: Diejenigen, die über die Vergabe von Forschungsgeldern entscheiden, sind oft ältere Männer, die eine Nähe zu Fragen der technischen Assistenz im Alter haben könnten. Jedenfalls wird für technische Entwicklungen viel mehr Geld ausgegeben als für soziale Innovation, die vielleicht viel einfacher und günstiger zu haben wären. Das wissenschaftliche Agenda-Setting wird nach Marktkriterien geregelt. Wir beleuchten vor allem die Verhaltensebene - du musst dich anders ernähren, anders lieben, anders trauern, etc. -, aber viel zuwenig die Ebene der gesellschaftlichen Verhältnisse.

DIE FURCHE: Was wären Kriterien für eine alternative Forschungs-Agenda?

Selke: Der Theologe Ivan Illich spricht von Lebensdienlichkeit: Das bedeutet, nicht nur unsere Reichweite zu erhöhen und Autonomie zu unterstützen, sondern auch zu verhindern, dass wir von der Technik abhängig werden. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer wiederum spricht von "schlauen" und "dummen Dingen": die ersten bringen uns zum Lernen und fördern die Gemeinschaft, die letzteren nehmen uns das Lernen ab und führen zum Verlernen von Kompetenzen.

Lifelogging

Digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung zwischen disruptiver Technologie und kulturellem Wandel.

Von S. Selke (Hrsg.). Springer 2016.343 S., geb., € 41,11

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