Wie sieht ein Pferd die Welt?

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In der Kunst hat er völlig neue Wege eingeschlagen. Wie viele Intellektuelle zog der Expressionist Franz Marc freiwillig in den Ersten Weltkrieg. Vor 100 Jahren starb er.

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In der Kunst hat er völlig neue Wege eingeschlagen. Wie viele Intellektuelle zog der Expressionist Franz Marc freiwillig in den Ersten Weltkrieg. Vor 100 Jahren starb er.

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Rote, orangefarbene, violette, gelbe und grüne Bögen. Sie erinnern an weiche Landschaftsformen, scheinen Hügel darzustellen. Davor ein in verschiedenen Blautönen gemaltes Pferd. Die Farbschattierungen bewegen sich zwischen einem nahezu weißen Hellblau an der Stirn bis zu einem dunklen Marineblau an den Hufen. Die Formensprache konzentriert sich auf das Wesentliche und besticht durch die grobe Kantigkeit. Das Fohlen wirkt ungestüm. Zugleich hat es den Kopf zur Seite geneigt. So als würde es für einen Moment innehalten und nachdenken.

Das über einen Meter hohe Ölgemälde gehört zu den Ikonen der Moderne. Es nennt sich "Blaues Pferd I" und wurde von Franz Marc im Jahr 1911 gemalt. Heute hängt es im Münchner Lenbachhaus. Die farbintensive Tierdarstellung ist eines der meist vermarkteten Kunstwerke. Kalender, Postkarten, Tassen, Blöcke: Kaum ein Produkt, das es nicht mit Franz Marcs blauem Pferd gibt. Ganz zu schweigen von der indirekten Einflussnahme auf die Werbung. Es gäbe wohl heute kaum eine lila Kuh einer Schokolademarke ohne die Kreativität des expressionistischen Ausnahmekünstlers.

Beschimpft und angespuckt

Dass bunte Tiere ein solcher Renner werden würden, war für die breite Masse zur Entstehungszeit unvorstellbar. Man war irritiert. Man hat die Bilder beschimpft, ja sogar angespuckt. Schließlich hat Franz Marc radikal mit den realistischen Sehgewohnheiten der damaligen Epoche gebrochen. Gemeinsam mit seinen Kollegen rund um den Kreis "Der blaue Reiter" hat er vollkommen neue Wege in der Kunst eingeschlagen.

Franz Marc war auch im Leben ein großer Tierfreund. Er besaß Hunde, wie seinen geliebten "Russi", auch Katzen und Rehe. Seine Kunst bezeichnete Marc als den Versuch, die menschliche Perspektive zu relativieren. So fragte er in dem Jahr, als er "Das blaue Pferd I" malte: "Gibt es für einen Künstler eine geheimnisvollere Idee als die Vorstellung, wie sich wohl die Natur in dem Auge eines Tieres spiegelt? Wie sieht ein Pferd die Welt oder ein Adler, ein Reh oder ein Hund?"

Kunst war Franz Marc in die Wiege gelegt worden. Bereits sein Großvater hatte neben der Beamtenlaufbahn gezeichnet, sein Vater war ein angesehener Genremaler. Allerdings gab es eine zweite Konstante im Leben von Franz Marc: die Religion. Die religiöse Prägung des 1880 in München Geborenen war vielfältig. Franz Marc war katholisch getauft, aber im protestantischen Glauben der Mutter erzogen worden. Die streng gläubige Mutter hatte von ihrem Sohn erwartet, dass er eine Theologenlaufbahn einschlagen wird. Einige Jahre hegte Franz Marc auch wirklich den Wunsch Geistlicher zu werden, unterstützt durch die Freundschaft mit dem evangelischen Pfarrer Otto Schlier. Mit der Zeit taten sich immer mehr Zweifel auf. 1898 kam er achtzehnjährig zu einer Entscheidung und meinte: "Pfarrer werde ich keiner". Selbstbewusst schrieb er seinem theologischen Mentor: "In erster Linie: Ich bin Künstler."

Dennoch werden Franz Marc religiöse Fragen zeitlebens beschäftigen. So ist er davon überzeugt, dass es keine große Kunst ohne Religion gibt. "Je künstlerischer die Kunst, desto religiöser ist sie gewesen", so Franz Marc. Der Versuch, seine beiden Leidenschaften zusammenbringen, verdichtete sich in dem Projekt einer großen Bibelillustration im Jahr 1913. Eingebunden waren viele Avantgarde-Stars: Paul Klee, Alfred Kubin, Wassili Kandinsky, Erich Heckel und Oskar Kokoschka. Die illustrierte Bibel war als Publikation der Redaktion des "Blauen Reiters" gedacht. Sie wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges nie vollendet. Dennoch sind einige Holzschnitte Franz Marcs zur Genesis erhalten. Sie zeigen einen freien künstlerischen Umgang mit dem biblischen Text der Schöpfungsgeschichte. Besonders schön ist das Blatt "Geburt der Pferde". Aus schwarzen, rotbraunen und grünen Formen lösen sich bei genauerer Betrachtung Pferdekörper heraus. Mitunter verschwinden die Tiere aber auch wieder in dem abstrakten Liniengefüge. Malerei hatte für Franz Marc selbst religiösen Charakter. Für ihn war sie, so der Künstler, "die Brücke zur geistigen Welt."

Zunehmend abstrakt

Es gibt kaum Werke von dem Tiermaler Franz Marc, auf denen Menschen dargestellt sind. Eine Ausnahme bildet eine winzige Ölskizze aus dem Jahr 1906. Zu sehen sind zwei Frauen auf einer Wiese. Die eine sitzt dynamisch im Vordergrund, die andere liegt entspannt dahinter. Im Hintergrund sind Berge und ein Himmel zu erkennen. Das skizzenhafte Ölbild diente Franz Marc als Vorlage für ein großes Gemälde, an dem der Künstler Monate malte, um es anschließend zu zerstören.

Künstlerisch ist "Zwei Frauen am Berg" spannend, da es bereits die zunehmende Loslösung von einer realistischen Malweise andeutet. Besonders brisant wird das Bild allerdings vor dem biografischen Hintergrund. Franz Marc hat beide hier gemalten Frauen später geheiratet. Zuerst die Malerin Marie Schnür, die vorne sitzend zu sehen ist. Später die Künstlerin Maria Franck, die auf diesem Bild im Hintergrund liegt. Die Liebeswirren waren phasenweise so schmerzhaft, dass der hier gemalte Berg von Franz und Maria Marc "Tränenhügel" genannt wurde. Der Maler hat rückblickend die erste Heirat, die seiner späteren Ehefrau so viel Kummer bereitetet hatte, als größten Fehler seines Lebens bezeichnet.

Maria Marc entsprach mit ihrer mütterlich-bodenständigen Erscheinung so gar nicht dem damaligen und noch weniger dem heutigen Schönheitsideal. Sie selbst hatte lange das Gefühl, dem attraktiven Maler nicht das Wasser reichen zu können. Dabei waren erst die Harmonie und das Glück zwischen den beiden der Boden für das kreative Schaffen und letztendlich auch für den künstlerischen Erfolg. So schrieb Maria Marc 1916 an ihren Mann kurz vor dessen Tod in Verdun: "Es ist und bleibt doch wahr, dass man allein nichts hat vom Leben - nur das liebende Zusammenleben gibt dem Leben und aller Arbeit einen Sinn."

Der Beziehung zwischen Maria und Franz Marc waren nach dem schwierigen Anfang nur mehr wenige glückliche Jahre vergönnt. Denn Franz Marc war schon kurz nach Ausbruch des Krieges, genauso wie sein Freund August Macke, eingerückt. Die Kriegsbegeisterung, die viele Intellektuelle zu Beginn des Ersten Weltkriegs erfasst hatte, ist heute schwer nachvollziehbar. Franz Marc war einer von ihnen. Lange saß er dem Irrtum auf, der Krieg sei eine notwendige Erneuerung für Europa. Erst spät widerrief er seinen Glauben an den Krieg: "Und das alles um nichts, um eines Missverständnisses willen, aus dem Mangel, sich dem Nächsten menschlich verständlich machen zu können."

"Kämpfende Formen"

Kurz vor Kriegsbeginn im Jahr 1914 malte Franz Marc das Bild "Kämpfende Formen". Es zeigt ein rotes und ein blaues Farbgebilde, die miteinander zu ringen scheinen. In Franz Marcs Farbtheorie war Blau die Farbe des Geistigen und Rot die der Materie. Das untypische Marc-Gemälde ist eine der letzten und größten Arbeiten des Künstlers - ungemein dynamisch und bereits gänzlich abstrakt. Im Wissen, dass kurz darauf der Erste Weltkrieg ausgebrochen ist, erscheint es in seiner Unruhe auch wie eine Vorahnung des Krieges. Wie ein Zittern der Welt angesichts des bevorstehenden Untergangs.

Immer wieder schrieb Franz Marc seiner Ehefrau Maria aus dem Krieg. So notierte er am Vormittag des 4. März 1916 auf eine Feldpostkarte folgende berührende Zeilen: "Zwischen den grenzenlosen schaudervollen Bildern der Zerstörung, zwischen denen ich jetzt lebe, hat dieser Heimkehrgedanke einen Glorienschein, der gar nicht lieblich genug zu beschreiben ist. Behüte nur dies mein Heim, dich selbst, Deine Seele und Deinen Leib und alles was mir gehört, zu mir gehört."

Am Nachmittag desselben Tages war Franz Marc bereits tot. Er war bei einem Erkundungsritt von Granatsplittern tödlich getroffen worden.

Hinweis: Blaues Pferd und gelber Tiger

Zum 100. Todestag von Franz Marc

Gedanken für den Tag von Johanna Schwanberg

Ö1, bis 5. März, jeweils 6.56 Uhr

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