Wie "Spaghetti mit Minzsauce"

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Wieso bestehen die Inselbewohner so auf der Abgrenzung gegenüber dem "continent", wie sie sagen? Die Salzburger Anglistik-Professorin Sabine Coelsch-Foisner gibt Einsichten in die britische Mentalität. | Das Gespräch führte Michael Kraßnitzer

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Wieso bestehen die Inselbewohner so auf der Abgrenzung gegenüber dem "continent", wie sie sagen? Die Salzburger Anglistik-Professorin Sabine Coelsch-Foisner gibt Einsichten in die britische Mentalität. | Das Gespräch führte Michael Kraßnitzer

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Der Brexit wäre in den Augen der Großbritannien-Expertin Sabine Coelsch-Foisner ein großer Verlust - für beide Seiten. Ein Gespräch über den wechselseitigen Kulturtransfer, britische Identität und den Generationenkonflikt, der das Vereinigte Königreich in der Europafrage spaltet.

DIE FURCHE: Sollten sich die Briten tatsächlich für einen Austritt aus der Europäischen Union entscheiden: Was würde dies für Europa bedeuten?

Sabine Coelsch-Foisner: Einen Riesen-Verlust. Im Kultur- und Bildungsbereich ist Mobilität selbstverständlich geworden. Wissenschaftler und Künstler arbeiten heute da und morgen dort. Man muss sich nur vor Augen führen, wie viele britische Dirigenten, Regisseure, Künstler oder Komponisten in den letzten Jahren allein in Salzburg waren. Für die EU wäre der Verlust Großbritanniens der Verlust eines Tores zu anderen Kulturen. Dort gibt es ein gelebtes multikulturelles Miteinander, das so in Europa nirgendwo existiert.

DIE FURCHE: Und würde die Abnabelung von Europa auch für Großbritannien einen großen Verlust bedeuten?

Coelsch-Foisner: Ja. Dazu muss man wissen, dass die Diskussion um den Brexit entlang eines "generation gap" verläuft. Die EU-Befürworter sind jene, die geboren wurden, als Großbritannien schon in der EU war. Für diese weltoffenen und kosmopolitischen jungen Leute ist es selbstverständlich, Urlaub in Griechenland zu machen oder nach Österreich Skifahren zu gehen. Viele sind sich über die Konsequenzen des Brexit auf ihren Lebensstil gar nicht richtig bewusst.

DIE FURCHE: Warum sieht sich die ältere Generation nicht als Teil Europas?

Coelsch-Foisner: Die Generation "55 plus", die den Brexit am stärksten befürwortet, kennt Großbritannien noch aus der Zeit ohne EU. Damals hat sich Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg erholt, da gab es den welfare state, da ist zum ersten Mal überhaupt eine Jugendkultur entstanden. Für diese Generation hat der EU-Beitritt einen massiven Wandel bedeutet, den sie offensichtlich als Einbuße an Souveränität und Selbstverantwortung empfunden haben. Außerdem gibt es eine grundsätzliche Mentalität, die sich durch die Jahrhunderte zieht: ein Widerstand gegen Gruppen und gegen Gleichschaltung. In der britischen Kunst und Literatur gibt es daher auch kein einziges Manifest, so wie zum Beispiel das surrealistische Manifest.

DIE FURCHE: Was ist überhaupt britische Identität oder Mentalität? Kann man heute noch von so etwas sprechen?

Coelsch-Foisner: Es gibt keine homogene britische Identität, sondern es handelt sich um eine elastische, eine hybride Identität. Das hat schon damit zu tun, dass wir es mit vier Nationen zu tun haben - England, Schottland, Wales und Nordirland -, die alle ihre historische Eigenständigkeit haben. Dazu kommen acht Millionen sogenannte non-white groups. Nach der ersten großen Einwanderungswelle aus Indien, Pakistan und den Commonwealth-Ländern in den Fünfziger und Sechziger Jahren ist eine beispielhafte Integration passiert: Die vielen Ethnien leben ihre eigene kulturelle Identität weiter, aber fühlen sich gleichzeitig britisch. Das bedeutet: Das Fremde wird nicht als Fremdes rezipiert, sondern wird mit dem Eigenen zu etwas Neuem verbunden.

DIE FURCHE: Wie groß ist der Einfluss der europäischen Kultur auf Großbritannien?

Coelsch-Foisner: In der Kultur gibt es kein Großbritannien ohne Europa. Das beginnt schon mit der multikulturellen Gesellschaft im Mittelalter: Die Aristokratie hat französisch gesprochen, der Klerus Latein und die Handwerker und Bauern angelsächsisch. Daraus ist dann das moderne Englisch entstanden. In der Renaissance wurden europäische Kunststile, Lied- und Versformen übernommen und dann zu etwas ganz Neuem gemacht. Mit der Restauration 1660 wurde die französische Theaterkultur importiert. Oder denken Sie an die "Grand Tour", die obligate Reise der gebildeten Schichten an die Stätten der antiken Kultur. Ohne den Austausch mit Deutschland würde es vieles in der englischen Literatur der Romantik nicht geben. Im 19. Jahrhundert kamen wieder französische Einflüsse dazu: Symbolismus, Modernismus, Surrealismus, Absurdes Theater. Mir fällt auch der Kult um die europäischen Komponisten ein: Niemand hat die italienische Oper, Carl Maria von Webers "Freischütz" und die europäische Klaviermusik im 19. Jahrhundert so verehrt wie die Briten.

DIE FURCHE: Warum wollen viele Brexit-Befürworter all diese Verbindungen nicht wahrhaben?

Coelsch-Foisner: Das Gros der britischen Bevölkerung betrachtet diese Traditionen als selbstverständlich, weil sie Teil des Eigenen geworden sind. Sie werden nicht als Fremdes wahrgenommen, sondern als Teil der eigenen Kultur gelebt. Als Libretti für Mozarts "Così fan tutte" wurden Shakespeare-Komödien adaptiert, und bei Opernaufführungen wurden Folk-Songs eingeschleust. Heute kann man - im schlimmsten Fall - im Lokal Toast und Spaghetti mit Minzsauce bestellen.

DIE FURCHE: Würde eine neue Grenze den wechselseitigen Kulturtransfer stark behindern? Shakespeare und die "Beatles" haben es ja nach ganz Europa geschafft, lange bevor es offene Grenzen gab.

Coelsch-Foisner: Den Transfer von immateriellem Kulturerbe wird es natürlich weiter geben. Dieses kann sich aber immer nur in materiellen Gegebenheiten ausdrücken. Und die sind mit Strukturen, mit Kulturaustausch, mit Förderungen und Kooperationen verbunden. Grenzen sind hinderlich für kreative Leistungen.

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