Wieviel Proporz steckt in Österreichs Schulen?

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Horst Lattinger, ehemaliger steirischer Landesschulratspräsident und ÖVP-Vordenker.

Die Furche: Herr Lattinger, Sie haben sich stets für eine gemeinsame Schule aller Zehn- bis 14-Jährigen ausgesprochen - gegen die Überzeugung der Bundes-ÖVP. Warum?

Horst Lattinger: Der Hauptgrund ist, dass vor allem in den Ballungszentren AHS-Unterstufe und Hauptschule ihre eigentliche Bildungsaufgabe nicht mehr wahrnehmen können. Wenn einmal bis zu 80 Prozent der Zehnjährigen in die AHS-Unterstufe gehen, dann kann mir niemand erzählen, dass sie dort das Niveau einer ersten Leistungsgruppe erreichen. Und wenn umgekehrt nur 20 Prozent eines Jahrgangs in die Hauptschule kommen, wird sie zu einer "Restschule", in der vor allem ausländische Kinder und Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf sitzen.

Die Furche: Gerade die Debatten um die "Neue Mittelschule" zeigen, dass in Österreich Bildungspolitik abseits von Parteipolitik kaum denkbar ist …

Lattinger: Ich habe mir vor Jahren gedacht, dass dieser Einfluss der Parteien allmählich abnehmen wird, weil er nicht mehr zeitgemäß ist. Ich könnte es ja noch verstehen, dass die Parteien daran interessiert sind, wer Präsident der Nationalbank wird. Aber bei uns in Österreich ist es Tradition, dass die Besetzung der Direktorenstelle einer zweiklassigen Volksschule in irgendeinem Graben zu Kämpfen zwischen den Fraktionen führt. Auch die Bildungspolitik insgesamt ist ganz stark politisch besetzt. Man kann nicht wertfrei diskutieren, welches System besser wäre. Früher oder später gibt es immer Maulkorberlässe oder Weisungen. Ein bisschen aufgeweicht worden ist es aber schon - wenn man etwa daran denkt, dass sich die ÖVP in der Steiermark für die neue Mittelschule stark gemacht hat. Und in der SPÖ sind auch AHS-Lehrer gegen die Gesamtschule aufgetreten. Aber hier geht es um Standesinteressen - die man von der Bildungspolitik ganz strikt trennen müsste.

Die Furche: Wie glücklich sind Sie dann mit dem Bildungssprecher der ÖVP, Fritz Neugebauer, der zugleich Beamtengewerkschafter ist?

Lattinger: Das ist sicher ein Zeichen dafür, dass diese Trennung bisher nicht stattgefunden hat. Aber in anderen Parteien gibt es ähnliche Fälle.

Die Furche: Wie objektiv verläuft Ihrer Ansicht nach die Bestellung der Direktoren in Österreich?

Lattinger: Durch die Assessment-Verfahren ist es sicher besser geworden. Aber nach diesen Verfahren wird nur ein Dreiervorschlag präsentiert: Die Letztentscheidung trifft das Kollegium des Landesschulrates, das proporzmäßig besetzt ist. Und von dem kann man natürlich keine völlig apolitischen Entscheidungen erwarten. Insgesamt ist es närrisch: Es ist zwar kein Verdienst, bei einer Partei zu sein, aber es ist auch kein Verdienst, bei keiner zu sein. Denn Leute, die für Parteien arbeiten, sind ja keine schlechten Leute. Das Problem ist nur, dass oft genug jemand nur Karriere macht, weil er zur richtigen Gruppe gehört.

Die Furche: Was würden Sie bei den Direktorenbestellungen ändern?

Lattinger: Im Rahmen der Verwaltungsreform hat es schon konkrete Pläne gegeben, die Kollegien einfach abzuschaffen und gerade bei Spitzenfunktionen Ausschreibungen zu machen. Von mir aus sollten die politischen Parteien eine Art Beobachterstellung haben und wie ein Aufsichtsrat kontrollieren, ob die Beamten ordnungsgemäß diese Bestellungen durchführen. Aber dass sie selbst eingreifen und sagen: "Der X muss Direktor werden und die Y darf es nicht werden", das darf nicht sein.

Die Furche: Bei der Umwandlung der Pädagogischen Akademien und Institute in Pädagogische Hochschulen hatten manche den Eindruck, dass einzelne Hochschulen "eingeschwärzt" wurden …

Lattinger: Also ich selbst bin im Hochschulrat der Pädagogischen Hochschule Steiermark tätig - und hier hat man doch versucht, eine gewisse Ausgewogenheit herzustellen: zwei Rote, zwei Schwarze und ein Vorsitzender, der keiner Partei zuzuordnen ist. Der Hochschulrat hat auch nicht so viel Macht, dass das entscheidend sein würde. Was mich bei der Einsetzung der Pädagogischen Hochschulen eher gestört hat, war, dass sie nicht die gesamte Ausbildung für alle Lehrerinnen und Lehrer bis zur neunten oder zehnten Schulstufe übernehmen sollen. In der AHS-Unterstufe und der Hauptschule gibt es ja wortidente Lehrpläne. Aber dagegen haben sich die Universitäten gewehrt, weil sie die Ausbildung der AHS-Unterstufenlehrer nicht verlieren wollten.

Die Furche: Haben Sie eine Idee, wie man das Schulwesen insgesamt aus der Umklammerung durch die Parteien befreien könnte?

Lattinger: Ich würde versuchen, die strikte Trennung zwischen AHS-Lehrern und Hauptschullehrern zu überwinden, die dadurch bedingt ist, dass sie zwei unterschiedliche Dienstgeber haben. Es gibt keine logische Erklärung dafür, warum es in Österreich Landeslehrer und Bundeslehrer geben muss. Bezahlt werden ja beide Gruppen aus Steuermitteln, denn das Land bekommt über den Finanzausgleich vom Bund das Geld für die Landeslehrer. Hier stelle ich mir etwas Ähnliches vor, wie es die Exekutive mit der Zusammenlegung von Polizei und Gendarmerie geschafft hat. Dort und da gärt es natürlich, wie man weiß, aber im Großen und Ganzen hat es funktioniert.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

Kurt Scholz, früherer Stadtschulratspräsident von Wien und SPÖ-naher Querdenker.

Die Furche: Herr Scholz, stimmen Sie zu, dass in der Bildungspolitik derzeit Stillstand herrscht?

Kurt Scholz: Ich will das allgemeiner sagen: Otto Bauer hat für die Erste Republik die These vom Gleichgewicht der Klassenkräfte aufgestellt. Was immer man heute von Otto Bauer und dem Austromarxismus hält, im Bildungsbereich ist man versucht, noch immer von einem Gleichgewicht der Klassenkräfte zu sprechen. Die beiden Lager - Rot-Grün und Schwarz-Blau-Orange - sind in etwa gleich groß und haben erschreckend wenige Gemeinsamkeiten. Das findet den logischen Ausdruck in einem Regierungsabkommen, das im Bildungsbereich den Stillstand verordnet. Dessen Kernaussage ist im Grunde, dass in dieser Legislaturperiode fast nichts geschehen soll.

Die Furche: Was also sollte geschehen? Müsste zunächst die Schulverwaltung grundlegend reformiert werden?

Scholz: Da sprechen Sie ja den Kernpunkt an und rühren am Nerv. Ich bin der Meinung, dass wir im Bildungsbereich eine Große Koalition brauchen, nur wozu würden wir sie brauchen? Zunächst müsste sie die atemberaubenden Doppel- und Dreifachzuständigkeiten im Bildungsbereich beseitigen. Das beginnt damit, dass für das Schulwesen der Bund, die Länder und die Gemeinden zuständig sind; es beginnt auch damit, dass es ein Dienstrecht des Bundes und daneben Dienstrechte von neun Bundesländern gibt; es setzt sich fort, dass es eine Schulaufsicht für die Hauptschule und eine andere für die AHS-Unterstufe gibt und eine getrennte Ausbildung etc. etc. Wo man nur kann, werden Musil'sche Parallelaktionen gesetzt.

Die Furche: Und es endet damit, dass alle Organe, die im Schulwesen leiten und bestimmen, proporzmäßig besetzt sind.

Scholz: Darüber redet niemand. Aber die politische Verfassung des Schulwesens, die sich ja in den Aufsichtsgremien, von den Kollegien der Landesschulräte über die Hochschulräte der Pädagogischen Hochschulen fortsetzt, ist der Ausdruck des Misstrauens der einen gegen die anderen. Früher hat man in Österreich gesagt: Man kann nicht unpolitisch turnen, aber man kann letztlich auch nicht unpolitisch zur Schule gehen. Die Diskussion, die es darüber in den 70er, 80er, 90er Jahren gegeben hat, ist in den letzten Jahren eingeschlafen, sehr zu meinem Bedauern. Man ist in der Großen Koalition offenbar übereingekommen, darüber nicht mehr zu reden.

Die Furche: Die Schulverwaltung soll im Zuge der geplanten Staatsreform ja übersichtlicher werden. Der Bund soll demnach für die gesamte Schulgesetzgebung und das Personalmanagement zuständig sein, die Länder nur mehr für die Organisation vor Ort.

Scholz: Es gab dazu schon viele Anläufe. Möge die Übung gelingen, aber meine Skepsis ist groß. Die Ausgangsbedingungen wären derzeit so gut wie seit Jahrzehnten nicht. Wir haben eine Große Koalition und auf der Länderebene ebenso ein Machtverhältnis von in etwa 50 zu 50 ÖVP- bzw. SPÖ-geführte Länder. In der Summe wären Vorteile und Lasten für alle gleich verteilt, aber man müsste Länderinteressen beschneiden, einzelnen Fürsten ihre Schrebergärtchen wegnehmen, und diese ach so große Koalition schafft diese "Kraftanstrengung" nicht.

Die Furche: Der Proporz prägt die Landesschulräte und die Direktorenbestellung.

Scholz: Das ist alles Produkt des abgrundtiefen Misstrauens zwischen den großen politischen Blöcken. Ich habe immer für besonders widersinnig gehalten, dass es in jedem Bundesland ein Kollegium des Landesschulrates gibt, das spiegelbildlich zu den Landtagen besteht. Das heißt, der Landesschulrat muss bei jedem Direktorenvorschlag, bei jedem Personalvorschlag in ein politisches Gremium gehen, das primär nach parteipolitischen Vorstellungen entscheidet und

dabei noch die Gnade der Diskretion und der Unbekanntheit hat. Das ist niemandem bewusst. Das wird nicht transparent gemacht. Die Abschaffung des Kollegiums wäre eine Kraftprobe, die eine Große Koalition wagen müsste.

Die Furche: Sie waren als Landesschulratspräsident umstritten. Wie sehen Sie Ihre Amtszeit heute?

Scholz: Ich habe viele Konflikte gehabt, und wenn ich mir heute etwas vorwerfe, dann das, dass ich nicht mehr Konflikte gehabt habe. Dennoch bin ich mit mir im Reinen, weil ich mir denke, dass ich verschiedene wunde Punkte wenigstens angesprochen habe. Ich bin gegen viele Mauern gerannt, aber ich habe die Probleme wenigstens angesprochen, auch wenn ich sie nicht lösen konnte.

Die Furche: Welche Mauern?

Scholz: Die Schule präsentiert sich immer als idealistische Einrichtung, in der sich human gesonnene Erwachsene in liebevoller Weise der Kinder annehmen. Beim näheren Hinsehen sieht man aber, dass sich hinter dieser humanen Aufgabe eine Fülle von politischen Interessen verbergen, die die Gnade der Diskretion haben, aber in Wahrheit "Verhinderungseliten" sind, wie Ex-Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer einmal sagte.

Die Furche: Wen meinen Sie vorwiegend damit?

Scholz: Die Lehrergewerkschaft, rot wie schwarz. Mich stört überhaupt keine Lehrergewerkschaft, die sich kämpferisch gegen Ansprüche der Schulverwaltung wehrt, aber mich stört sie, wenn Ansprüche der Eltern und Kinder unter die Räder kommen und wenn sie an einem antiquierten Dienstrecht festhält. Alle Parteien sollen sich bei der Nase nehmen, da sie keine bildungspolitische Vorstellung formulieren, die über die Wünsche der jeweiligen Personalvertretung hinausgeht. Im Wesentlichen sind die Bildungsvorstellungen der Parteien eine Fortschreibung der Wünsche der Lehrergewerkschaften, und das ist dürftig.

Das Gespräch führte Regine Bogensberger

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