Wikingerschiffe und Volkstanzgruppen

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Helsinki ist eine der neun Kulturstädte Europas im Jahr 2000. Statt Kunst und Hochkultur setzen die Finnen auf Tradition und familientaugliche Unterhaltung.

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Helsinki ist eine der neun Kulturstädte Europas im Jahr 2000. Statt Kunst und Hochkultur setzen die Finnen auf Tradition und familientaugliche Unterhaltung.

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Geschäftsführender Direktor einer europäischen Kulturstadt im magischen Jahr 2000 zu sein, könnte einen ganz schön ins Schwitzen bringen. Georg Dolivo, Theaterdirektor und Unterhaltungskünstler sieht dem kommenden Jahr in Helsinki gelassen entgegen und tut das, was er am besten kann: er unterhält Menschen. "Kultur ist vor allem Lebenskultur", vertritt Dolivo einen weit gestreuten Kulturbegriff, der mit elitären Kunstauffassungen wenig zu tun hat.

Helsinki präsentiert sich im Millenniumsjahr vor allem volksnah. "Nur weil die ganze Welt am ersten Jänner 2000 verrückt wird, müssen wir da nicht nachziehen", behält Dolivo kühlen Kopf, obwohl es fürwahr genug zu feiern gibt: Helsinki begeht überdies seinen 450. Geburtstag. Zu bemerken ist das vorerst an aufgekratzter Stimmung und der Wiederbelebung des legendären "Hotel Kämp", in dem seinerzeit der Finnen liebster Komponist Jean Sibelius seine Nächte durchzechte, Kinovorführungen stattfanden und Kriegsberichterstatter während des zweiten Weltkriegs residierten. Pünktlich zu Helsinkis wichtigem Jahr wurde es aus einer Bankfiliale zum ersten Fünf-Stern- Hotel des Nordens verwandelt.

Zur Feier der Jahrtausendwende präsentiert sich Europas Kultur gleich neunfach: Diese Verantwortung lastet nicht, wie bisher, auf den Schultern einer Kulturhauptstadt, sondern verteilt sich auf neun Kulturstädte. Gegen die Konkurrenz von Avignon, Bergen, Bologna, Brüssel, Krakau, Prag, Reykjavik und Santiago de Compostela setzt Helsinki vor allem auf Bodenhaftung, und darauf, die hohe Lebensqualität im Norden der ganzen Welt bekannt zu machen.

"Ein Mittsommernachtstraum": mit einem Mysterium in Eis und Schnee zwischen Traum, Wirklichkeit und Kindheit beginnt die Stadt das Millennium. Ein Fest für Kinder, eine Investition in die Zukunft. Familien, Märchen, finnische Tradition zwischen Schneekönigin, Sauna, Folklore und tausenden Segelbooten stehen im Mittelpunkt des Kulturjahres. Zauberschmieden, Zirkuswagen, Container für die Kunst, Workshops, Tanz, die serielle Produktion eigens designter Möbel, auf dem Wasser schwimmende Gärten, Filmfestivals , Symposien oder eine Installation mit den berühmten Nordlichtern: all das ist das Resultat von über 600 Treffen mit Künstlern.

Die stadtbezogene, bürgernahe Ausrichtung, mit der Finnlands Künstler fächerübergreifend ihre Kunst zu den Menschen tragen, kommt von ihnen selbst. "Wir sind eine relativ neue Nation, lange stießen wir unser Erbe ab, und sind nun dabei, es wieder zu entdecken. Verglichen mit Europa gibt es bei uns einen ziemlich folkloristischen Blick auf die eigenen Traditionen. Klischees sind für uns keine Klischees", erklärt Dolivo das Bedürfnis finnischer Künstler nach Wurzelsuche. Das äußert sich in der Programmgestaltung des Jahres 2000, die immer wieder Bezüge zur eigenen Geschichte herstellt.

Die Erwachsenen Helsinkis werden Mitte Jänner das junge Millennium mit einer alten Tradition begrüßen: man errichtet eine Schneekirche. Nicht irgendeine, sondern die eisige Rekonstruktion der alten, 1727 erbauten Holzkirche Ulrika Eleanora, die vom russischen Zaren Alexander geschliffen worden war. "Letztes Mal standen vor der Schneekirche Schlangen wir vor dem Lenin-Mausoleum, Leute haben da drinnen geheiratet und Kinder getauft", betritt Dolivo weder Neuland noch Glatteis. 51 Abendveranstaltungen werden von Mitte Jänner bis Anfang März die eisige Kirche beleben.

Ein Fantasy-Land für Kinder, arktische Schwimmmeisterschaften, Eislaufplätze, Lagerfeuer, Schneeparties oder vielerlei Spielarten einer entwickelten Saunakultur zelebrieren den Winter. Mit Freuden konnte man die erste öffentliche Holzsauna "Kotiharju" renovieren und im Juni wiedereröffnen. Weniger als zweihundert Tage bleiben den Finnen noch, sie ordentlich einzusitzen. Ein Publikumsrenner mit geduldigen Warteschlangen ist sie trotz sommerlicher Temperaturen schon heute. Im Kulturjahr soll die Kultur des richtigen Schwitzens noch mehr zelebriert werden: der Titel "Sauna des Monats" erschließt weitere verborgene Kleinodien des Saunawesens einer breiten Öffentlichkeit.

Auf der dem großen Ereignis entgegenfiebernden Homepage http://www.2000.hel.fi finden sich täglich anwachsende, detaillierte Informationen und Links zu den anderen acht Städten. Gemeinsam arbeitet man auch am "Kide-Kristall", einem gläsernen Kubus, der in allen Kulturhauptstädten steht und in Bild und Klang über die dortigen Events informiert.

"Wir veranstalten kein gekünsteltes Festival, das auf große, schnelle Effekte aus ist. Wir machen das für uns selbst, besinnen uns auf unsere Werte und Traditionen. Kultur ist kein Kunstprojekt, es hat viel mehr mit Lebenskultur zu tun", definiert Dolivo sein Konzept.

Mit drei permanenten symphonischen Orchestern, mehr als 30 Theatern und über 60 Museen für eine halbe Million Einwohner hat Helsinki eine hohe Dichte kultureller Schauplätze. Die Kultur verläßt im Jahr 2000 ihre Stammhäuser, um auf öffentliche Plätze, zu den Alten in die Altersheime und den Kindern zu gehen. "Wir haben den Luxus eines Budgets von über 50,5 Millionen Euro (695 Millionen Schilling), da können wir Projekte unterstützen, die einen länger anhaltenden Effekt haben", nutzt Dolivo sein Kapital mehr für die Breitenwirkung als für Avantgarde-Aufführungen.

Hauptsächliche Zielgruppe der Veranstaltungen sind Familien. Das Konzept kommt an: Nach einer Meinungsumfrage befürworteten 60 Prozent der Finnen das Programm, 13 Prozent schätzten es langweilig ein, während unglaubliche zwölf Prozent der Meinung waren, es widme sich nicht genug den Menschen.

Dabei soll sogar auf einer der vielen felsigen Inseln vor Helsinki ein Dorf aus der späten Eiszeit aufgestellt werden, in dem Handwerker nach uralten Methoden Gerätschaften aller Art herstellen und Märkte mit eiszeitlichem Flair für das leibliche Wohl des heutigen Menschen sorgen. Wer erlebt hat, wie am Markt bei tropischen Temperaturen Nerzmützen verkauft werden, den kann das nicht mehr wundern. Im Mai bereichern historische Segelboote das Ambiente des Hafens, ob die neuzeitlichen Eisbrecher, die dort momentan lagern, dann das nasse Feld räumen müssen, wird man sich ansehen müssen. Das obligate Wikingerschiff legt im Sommer an.

Helsinki im Juli ist unglaublich heiß: Über 30 Grad kann es haben, wer nicht in der Stadt bleiben muß, flieht ans Landhaus an einem der fast 200.000 Seen oder vergnügt sich an einer Bucht am Stadtrand. Trotzdem sitzen einige Kulturinteressierte im winzigen Lillan Theater auf der Leikosaarentiestraße: der dunkle, enge, mit Scheinwerfern zusätzlich angeheizte Raum ist unerträglich stickig schwül. Geboten wird eine Folkloretanzshow, im Publikum sind durchaus nicht nur Touristen. Eine Mutter mit Kind, eine ältere Dame, Jugendliche in Doc Martens-Schuhen: Tradition ist in.

Die Gruppe "Tsuumi" unter Direktor Matti Paloniemi ist die einzige, die sich auf professioneller Basis um den vom Vergessen gefährdeten Volkstanz kümmert. Sakral anmutender Ernst liegt auf den Tänzergesichtern, wenn die Männer mit ihren Stiefeln die Polka stampfen, klingt das wie die Hufe einer Elchherde. Mit nachlassender Kondition weicht Euphorie lyrisch melancholischer Paarromantik. Originaltrachten bringen "authentische" Wirkung, die Freude der Tänzer, sie tragen zu dürfen, ist unübersehbar. Als Pausenfüller fürs Umziehen spielen vier Musiker alte Walzer und Menuette. Vilma Timonen beherrscht die Kantele, eine fünfseitige Zither, die der Legende nach aus einem Haifischkiefer gemacht worden war. Hannu Kella, Hannu Oskala und Jarno Tastula begleiten auf Akkordeon, Bass und Geige. Keiner von ihnen ist über dreißig Jahre alt, der Applaus für die schweißüberströmten Akteure kommt von Herzen.

"Wir haben über 40.000 Musikveranstaltungen pro Jahr", erklärt Georg Dolivo. Vom traditionellen, klassischen Symphonieorchester bis hin zu Jazz, Folklore und Pop reicht das Spektrum. Weil nur 30 Prozent der Einwohner Helsinkis das normale Kulturangebot nutzen, kommt die Musik im Jahr 2000 "in die Kneipen." Durch die subtile Koppelung von Sport und Kultur möchte Dolivo 120.000 Menschen dazu bringen, sich eine moderne Oper über den finnischen Sportler Paavo Nurmi im Olympiastadion anzusehen.

Wie Finnland im Extrem zwischen kalten Wintern und heißen Sommern lebt, so navigiert es zwischen Eiszeit und Cyberspace. Kein anderes Land der Welt hat eine gleich hohe Nutzung von Internet und Handys. Nokia ist nicht zufällig ein finnischer Konzern.

Die "Helsinki Arena 2000" hat den virtuellen Traum der dreidimensionalen Stadt verwirklicht. "Lasipalatsi" ist keine Imitation des Eispalastes der Schneekönigin, sondern ein stilvoll renoviertes Gebäude aus den dreißiger Jahren. Real gibt es dort eine Internetbibliothek mit Workstations für jedermann, Restaurants, Geschäfte, sowie ein altes Kino mit 650 Sitzplätzen und modernster Technik. Dreidimensional animiert existiert "Lasipalatsi" auch im Netz. Die erste virtuelle Party fand schon statt, Lara Croft und ähnliche Figuren bewegten sich, von zu Hause aus gesteuert, durch den Cyberspace, tanzten und kommunizierten miteinander. Den Finnen gefiel's. "Noch gehen die Menschen wirklich hierher, aber in fünf bis zehn Jahren werden sie ausschließlich das Internet nutzen", meint Arena-Entwickler Erkki Kauranen selbstbewußt.

Virtuell kann man aber noch immer keinen gebratenen Lachs oder Piroggen essen. Alvar Aaltos "Finlandia" oder Stephen Holls neues Museum, den virtuellen Sonnenuntergang über dem Hafen von Helsinki mit dem Geruch der salzigen Luft gibt es im Cyberspace noch nicht, die blonden, finnischen Frauen sind um einiges schöner als ihre Animationen. "Sie müssen einfach kommen, und es sich ansehen", rät Georg Dolivo. Er hat Helsinki 2000 geformt, er muß es wissen. Immerhin hat er ja schon Journalisten eingeladen, um ihnen die Schönheiten seiner Kulturstadt schmackhaft zu machen.

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