Wilhelm Tell aus Istanbul

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Annäherungen eines in Österreich lebenden Schweizer Fußball-Banausen an das Faszinosum EURO 08.

Grün beruhigt. Das steht seit langem fest, denn so wurde es uns seit jeher von den Farbpsychologen erklärt - und von niemandem hinterfragt. Grün ist gut für die Nerven. Grün sind die Kittel der Chirurgen im Operationssaal, denn Nervosität hätte hier verheerende Folgen; grün ist der Spieltisch im Casino, denn unbedachtes Handeln könnte für den Spieler im Ruin enden; grün sind die Filzunterlagen auf den Schreibpulten der Beamten, grün die Gummibäume in ihren Büros - wobei man sich wohl fragt, weshalb denn Beamte der zusätzlichen Beruhigung bedürfen.

Ja, und grün ist insbesondere der Fußballrasen. Doch dieses Grün ist alles andere als beruhigend - es bildet den Hintergrund für allerhöchste Erregung, für Spannung, Begeisterung und mitunter auch Aggressivität. Komplementärfarbe zu Grün ist Rot. Es ist die Farbe des Stierkampfes, die Farbe der Revolution, die Farbe der Leidenschaft. Und es ist, abgesehen davon, die Grundfarbe zweier Flaggen: Die Nationalfarbe der beiden Gastgeberländer Österreich und Schweiz, die uns gegenwärtig das spannungsreiche Spektakel auf grünem Grund bescheren. Österreich und Schweiz - zwei unaufgeregte Nationen mit geradezu sprichwörtlicher Stabilität. Schon in der Vorrunde mussten beide die Waffen strecken. Enttäuscht zwar, aber letztlich gelassen nahmen beide Nationen den Schicksalsschlag hin. Und, positiv betrachtet, sind wir beiden rotweißroten Nachbarländer einander jetzt in zweifacher Hinsicht verbunden: Nicht nur als Gastgebernationen, sondern auch als tapfere Verlierer auf dem grünen Rasen, noch bevor es eigentlich richtig losgegangen ist.

Ich verstehe nichts von Fußball und vermag mich auch nur sehr mäßig dafür zu begeistern. Beides, vor allem die Expertise, überlasse ich meinem 14jährigen Sohn. Der weiß dafür alles. Er sitzt bis in die späten Nachtstunden vor dem Computer, um sich sein phänomenales Detailwissen anzueignen. Ich hingegen weiß bis jetzt nicht genau, wie es zu einem "Abseits" kommen kann, "Konter" hielt ich für einen musikalischen Begriff, der irgendetwas mit Kontrabass oder Kontrapunkt zu tun haben musste - und "Schwalbe" schlichtweg für eine weit verbreitete Vogelart.

Fanzone - Calzone

Peinlicherweise hielt ich auch, als mir dieser Begriff das erste Mal begegnete, "Fanzone" für eine mir bisher unbekannte italienische Spezialität, so etwas wie "Calzone" vielleicht. Jetzt haben meine beiden Heimatstädte, Zürich und Wien - in der einen Stadt wurde ich geboren, in der anderen lebe ich - eine Fanzone, mittendrin. Obwohl ich selbstverständlich über eines jener Plastic-Kärtchen verfüge, die mich als Journalisten ausweisen und mir den Zugang in die mittels hoher Zäune und Betonklötze von der Alltagswelt getrennten, schwer bewachten Zonen gewähren, hatte ich bisher nie die geringste Lust verspürt, mich unter die Fans der Fanzone zu mischen. Ich begnügte mich mit den akustischen Effekten - und machte mir bald ein kleines Spiel aus der Sache: Wenn plötzlich begeistertes Gebrüll in der Fanzone aufbrandete und sich während Sekunden als Schallteppich über die ganze Innenstadt ausbreitete, versuchte ich zu erraten, welche Mannschaft ihr Tor geschossen hatte …

Ich kann nicht sagen, dass ich in den letzten Wochen zum Fußball-Fan wurde. Aber die Sache begann mich dann doch zu interessieren. Vor allem verfolgte ich mit fast atemloser Faszination, wie unterschiedlich doch so ein Match verlaufen kann. Gebannt verfolgte ich mit, wie zwei augenscheinlich gleich starke Mannschaften (Türken und Kroaten bzw. Spanier und Italiener) sich 119 bzw. 120 Minuten lang gegenseitig mit 0:0 in Schach zu halten vermochten, kopfschüttelnd wurde ich Zeuge, wie bei manchem Spiel in allerletzter Minute noch das entscheidende Tor fiel. Und das Spiel Schweiz-Türkei bei strömendem Regen, wo das Wasser bis zur Halbzeit zentimenterhoch auf dem Rasen des Basler St. Jakob-Stadions stand, war für mich ein Faszinosum.

Ich unternahm Reisen, um die Mannschaften in ihren Standquartieren zu besuchen. "Die Italiener" in Baden bei Wien, untergebracht im historischen Schlosshotel Weikersdorf mit Blick auf das berühmte Rosarium im Doblhofpark - wobei ich es kurios fand, dass dies eine Art Rückkehr war, denn Baden war ja als "Aquae" 50 n. Chr. von römischen Legionären gegründet worden. Und im Stubaital besuchte ich "die Spanier", die im "Milderer Hof" in Neustift logierten. Unter heftigen Zurufen "vamos, vamos" ihres Trainers Aragonés feierten "die Spanier" nach ihrem triumphalen Sieg am Abend zuvor über "die Russen" im Innsbrucker Stadion auf dem Fußballplatz der Gemeinde - im Nieselregen und mit der Dorfbevölkerung als Publikum.

Spanisch im Stubaital

"El Banco" stand auf einem Kartonschild in den Farben der spanischen Flagge an der Tür zur lokalen Filiale der Raiffeisenkasse, "Banca" hingegen prangt am Eingang der Sparkasse. Der vom Tourismusverband Neustift im Stubaital eilig angebotene Spanischkurs ist zwar insbesondere bei den Hoteliers auf große Nachfrage gestoßen, aber die Frage, ob es nun "Banca" oder "Banco" heißt, ist noch nicht endgültig entschieden. Aufmerksam wurden die öffentlichen und andere nützliche Einrichtungen mit spanischen Bezeichnungen versehen, zumal, wie man rasch festgestellt hatte, die spanischen Gäste des Deutschen kaum mächtig waren.

War auch ich plötzlich vom Fußballfieber gepackt worden? Ich hielt zu dieser und dann zu jener Mannschaft, begann mich zu identifizieren - und wieder einmal wurde mir bewusst, was Fußball alles bedeuten kann. Neuzeitlicher Gladiatorenkampf? Kriegsersatz? So unzivilisiert die Auswüchse bisweilen sein können - randalierende Hooligans, blutige Köpfe, Bierdosen und Glassplitter -, Fußball ist letztlich ein zukunftsweisendes Modell. Denn schon im Sprachgebrauch wird deutlich, dass nicht "die spanische Nationalmannschaft" gewonnen hat, sondern "die Deutschen" oder "die Russen". Da stehen nicht elf Mann einander gegenüber, sondern Millionen - Nationen eben. Absurd wird die Sache allerdings, wenn man sich vor Augen hält, wer "die Franzosen" sind - denn der Großteil der französischen Nationalmannschaft besteht bekanntlich nicht aus Franzosen, und bei anderen Mannschaften ist dies ähnlich.

Das lustigste Beispiel war jenes "der Schweizer": Der Held, der in Basel das großartige Tor gegen "die Türken" geschossen hatte, war kein Schweizer, sondern - ein Türke: Hakan Yakin. Der Spieler, der dieses Tor vorbeitet hatte, war ebenfalls kein Schweizer, sondern auch ein Türke: Eren Derdiyok. Der Türke Yakin verhalf wenige Tage später "der Schweiz" zum 2:0-Sieg gegen "Portugal" - und wieder war es ein Türke, dessen Vorarbeit das erste dieser Tore zu verdanken war: Gökhan Inler.

Und sie schlagen sich nicht blutig auf dem Schlachtfeld, diese Nationen, sondern nach strengen Regeln und unter den unerbittlichen Augen (hoffentlich) neutraler Schiedsrichter. Zurück bleiben jeweils Verlierer und Verletzte - aber in der Regel keine Toten. Also stimmt es letztlich doch: "Grün beruhigt" - bei aller Aufgeregtheit auf dem grünen Fußballrasen?

Der Autor ist Österreich-Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung".

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