"Wir alle sind Augenzeugen"

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In seinem Dokumentarfilm "Seefeuer" zeigt Gianfranco Rosi schonungslose Bilder vom Brennpunkt Lampedusa: Der preisgekrönte italienische Regisseur über seinen Zugang zur Flüchtlingstragödie.

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In seinem Dokumentarfilm "Seefeuer" zeigt Gianfranco Rosi schonungslose Bilder vom Brennpunkt Lampedusa: Der preisgekrönte italienische Regisseur über seinen Zugang zur Flüchtlingstragödie.

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Gianfranco Rosi, 1964 in Eritrea geboren, bezeichnet sich selbst als Flüchtling und "heute als Europäer". Als "politisch" sieht er seine Filme nicht, wie er der FURCHE im Interview verriet.

Die Furche: Der Alltag der Inselbewohner auf Lampedusa findet in Ihrem Film scheinbar unberührt davon statt, was draußen auf offener See passiert. Ist Lampedusa eine Parallelwelt?

Gianfranco Rosi: Lampedusa wurde zur Parallelwelt gemacht. Vielleicht begann das, als die italienische Küstenwache vor drei Jahren die Marineoperation "Mare Nostrum" installierte. Später begann die Operation Triton unter der Arbeit der EU-Grenzagentur Frontex. Die Grenzen dieser Insel verschoben sich damit ins Mittelmeer. Das ändert alles. Nicht nur für die Bewohner, die sich plötzlich von Militärbooten umzingelt sehen, sondern auch für die Flüchtlinge. Lampedusa wurde zu einer großen Erstaufnahmeeinrichtung.

Die Furche: Warum ist Ihnen die Gegenüberstellung wichtig: hier der Alltag des Jungen, der gegen seine Seekrankheit trainieren muss, dort die Kriegsflüchtlinge auf den Booten?

Rosi: Samuele wurde eine Art Alter Ego, weil er ständig etwas machte, was förmlich zu einer Metapher für meine, für unsere Wahrnehmung der Flüchtlinge wurde. Er spielt Krieg, er und sein Freund schießen mit imaginären Maschinenpistolen. Er ist auf einem Auge fast blind, genau wie wir, die wir die Tragödie vor unseren Augen nicht wahrhaben wollen. Samuele wird sich während des Films langsam seiner Umwelt bewusst. Er bekommt Angstzustände, weil da etwas um ihn herum passiert, was er nur fühlt. Da wächst ein Kind auf, das bald mit der Härte von Lebensentscheidungen konfrontiert sein wird. Gleichzeitig verändert uns die Wahrnehmung der Flüchtlinge, die uns damit konfrontiert, Entscheidungen treffen zu müssen. Spätestens im Augenblick der Tragödie, die am Schluss des Films zu sehen ist: dutzende Leichen im Rumpf eines großen Flüchtlingsboots.

Die Furche: Was man zeigt und was nicht, ist das für Sie in erster Linie eine moralische oder eine politische Frage?

Rosi: Mein Film ist nicht politisch. Und auf Moral ist nicht immer Verlass. Ich fand zuerst, es wäre zu hart, die Toten zu filmen. Aber dann sagte der Chef der Rettungsmannschaft, ich könnte das nicht einfach ausblenden. Ich sah es dann als meine moralische Verpflichtung an. Auch bei der Montage kommt Moral ins Spiel: Wie komme ich im Film bis dahin, das überhaupt zeigen zu können? Wenn Menschen vor unseren Augen sterben, dürfen wir den Blick nicht abwenden.

Die Furche: Sie sagen, Ihr Film ist nicht politisch. Negieren Sie damit als Filmemacher eine politische Haltung?

Rosi: Kino hat keine Verpflichtung außer jene, eine Geschichte zu erzählen. Ich will Bewusstsein schaffen, und natürlich denke ich über Politik nach. Aber ich mache einen Film nicht mit dem Zweck, etwas zu verändern.

Die Furche: Im Film wird Samuele auch zur emotionalen Identifikationsfigur. Die Flüchtlinge erlebt der Zuschauer hingegen fast nur in der Menge, als anonyme Gruppe. Wie haben Sie über Gewichtung und Perspektiven entschieden?

Rosi: Aus den Umständen heraus. Mit Samuele verbrachte ich ein Jahr, die Flüchtlinge verlassen das Aufnahmezentrum nach ein, zwei Tagen wieder. Ich konnte sie oft nur wenige Stunden treffen. Also versuchte ich wenigstens, Kontakt herzustellen und in der kurzen Zeit eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Ich denke, in der Szene, in der einer der Afrikaner seine lange Reise durch die Wüste über Libyen bis zum Mittelmeer im Rap erzählt, ist das gelungen.

Die Furche: Was können Filmbilder heute jenseits der schnellen Nachrichtenbilder überhaupt leisten?

Rosi: Sie können Zeugnis ablegen und Aufmerksamkeit generieren. Zum ersten Mal in der Geschichte sind wir alle Augenzeugen einer großen Menschheitskatastrophe, während sie geschieht. Anders als beim Holocaust oder bei Ruanda gibt es heute simultan Bilder und nicht erst danach. Wir können daher nicht sagen, wir haben es nicht gewusst. Das nimmt die Politik in die Verantwortung: Es kann kein Wegsehen und kein Leugnen geben.

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