Wir haben zu lange zu wenig bekommen!

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Kein Zurück mehr in die Zeit des Schweigens, Verhüllens und Unter-den-Teppich-Kehrens der Nazi-Vergangenheit.

Wenn derzeit in Sachen Nazi-Zeit "auf- und durchgearbeitet, bewältigt und erinnert" wird, "was die Auflage hält", wie der Standard eine Reihe von Diskussionsbeiträgen eingeleitet hat, so sollte das Ganze prinzipiell einmal positiv gesehen werden. Gerade jene Generation der Nachgeborenen, der auch ich als Kind der Babyboomer-Zeit angehöre, hat in der Vergangenheit die Vergangenheitsbewältigung eher als Verschweigen denn als Aufarbeiten erlebt.

In den siebziger Jahren, als die Babyboomer Welt und Menschen zu entdecken begannen, war die Zeit zwischen 1938 und 1945 völlig ausgeblendet. Ein weißer Fleck. Weder Familie noch Schule und schon gar nicht Gesellschaft waren in der Lage, den Heranwachsenden die Augen zu öffnen und ihnen einen objektiven Zugang zu den Ereignissen der Nazi-Zeit zu gewährleisten. In der Familie wurde lediglich vom Krieg als einer schrecklichen Zeit der Not und des Hungerns gesprochen, in vielen Fällen unterfüttert mit Kriegserlebnissen von Großvätern, Vätern und Onkeln. Das Ende des Zweiten Weltkrieges wurde als "Zusammenbruch" und nicht als "Befreiung" bezeichnet.

In der Schule war die Hitler-Zeit ein Tabu. Im Geschichtsunterricht hörte man zwar viel von römischen Kaisern und Glanztaten des Hauses Habsburg, aber spätestens mit dem Ende des Ersten Weltkrieges waren dann auch die Schuljahre zu Ende. Die Zwischenkriegszeit mit dem Bürgerkrieg im Jahr 1934 war ebenso kein Thema wie die Nazi-Zeit oder gar der Holocaust.

Einen ersten großen Ruck gab es erst am Ende der siebziger Jahre: Die Ausstrahlung des TV-Vierteilers "Holocaust" im ORF löste auf einer sehr emotionalen Ebene eine breite Diskussion über die so lange totgeschwiegene Zeit aus. Kinder stellten ihre Eltern, Schüler ihre Lehrer zur Sprache.

Die zweite große Öffnung zu einer breitenwirksamen Erhellung der dunklen Nazi-Jahre löste wiederum ein Film aus: Anfang der neunziger Jahre brachte "Schindlers Liste" von Steven Spielberg jene Lawine ins Rollen, die bis heute zu einem gigantischen Konglomerat an Material über die NS-Zeit angewachsen ist. Und das ist gut so: Im riesigen freien Markt des Angebotes kann man als Konsument wählen wie nie zuvor. Das Spektrum reicht von eher auf ein Massenpublikum abzielenden Publikationen über differenzierte Betrachtungen bis hin zu streng wissenschaftlichen Arbeiten. Und wenn sogar 1000-Seiten-Wälzer zum Thema Spitzenplätze in den Bestseller-Listen erklimmen, dann sollte auch das positiv gesehen werden.

Zumal fast alle Publikationen eines gemeinsam haben: Die Annäherung an das Thema ist objektiv, die subjektive Deutung allerdings eindeutig. Soll heißen: Es gibt kaum Anbiederungen an das Braune, das Schreckliche des Terror-Regimes wird herausgearbeitet - und die Schlüsse werden meist dahingehend gezogen, dass so etwas nie mehr passieren dürfe. All das leistet sehr viel für die Sensibilisierung der Menschen und die Entmythologisierung der vom Philosophen Rudolf Burger zynisch als "morbides Faszinosum" bezeichneten Nazi-Zeit.

Wir haben die Zeit des Schweigens, Verhüllens und Unter-den-Teppich-Kehrens miterlebt. Wir haben auch die zaghaften Schritte des offeneren Zuganges miterlebt, so wie wir jetzt die breite und tiefe Beschäftigung mit dem Thema miterleben. Und so lange in der Alltagssprache noch Ausdrücke verwendet werden, die direkt aus dem mörderischen Holocaust übernommen wurden ("Im Rampenlicht stehen", "Durch den Rost fallen" oder "Sich in Luft auflösen"), solange müssen all die Filme, TV-Serien, Bücher, Reportagen und Diskussionsbeiträge in den Zeitschriften und Zeitungen gemacht werden. Ganz unter dem Motto: Wir haben viel zu lange zu wenig bekommen - gebt uns mehr!

Der Autor,

Jahrgang 1964, ist Journalist in Graz und war von 1986 bis zur Einstellung Ende April 2001 Redakteur der steirischen Tageszeitung "Neue Zeit".

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