Entsetzen wird zu Erzählen: Der 11. September 2001 und seine Folgen als Themen der Literatur.
Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu reden, zu verstummen und wieder weiterzureden ... Sie wollen es noch mal hören, aus anderer Perspektive, wollen sich vergewissern, was sie durchgemacht haben, um durch die genauen Vergleiche ihrer Gefühle und Beobachtungen zu spüren, daß dieser Alptraum hinter ihnen liegt, dass sie zurückgekehrt sind in das vertraute Netz gesellschaftlicher und familiärer Beziehungen, ohne das sie nichts sind."
Was Ian McEwan in seinem Roman "Saturday" als Aufarbeiten eines Schocks, ausgelöst durch einen Überfall auf eine Familie, beschreibt, hat sich auch im großen Weltgeschehen vor aller Augen abgespielt: Wiederholungen von Bildern und Worten, mit denen man sich Zusammengehörigkeitsgefühl (oft gegen andere) erzählte. In seiner Einleitung zu "110 Stories. New York writes after September 11" wies Ulrich Baer darauf hin, dass nach Katastrophen das Bedürfnis nach dem Narrativen wächst. In den Tagen nach dem 11. September 2001 überschwemmten Texte und Gedichte New York, neu formulierte ebenso wie wieder entdeckte. Und das Geschäft mit Büchern über den Schrecken erblühte.
Bücher über den Schrecken
Schriftsteller lieferten Wortspenden als Welterklärer und moralische Instanzen, Betroffenheitsstatements ebenso wie Tagebucheinträge (darunter Rafik Schamis interessante Aufzeichnungen "Mit fremden Augen"), Essays oder Journale (etwa Kathrin Rögglas "really ground zero"). Es kam zu amerikakritischen Stellungnahmen von Schriftstellern (Gore Vidal in "Bocksgesang", später Nicholson Bakers Roman "Checkpoint") oder Hasstiraden gegen den Islam wie jene von Oriana Fallaci. Was die Schriftsteller als Essayisten oder Interviewte in jenen Tagen und Wochen von sich gaben, unterschied sie nicht unbedingt von anderen. Interessanter ist, wie sie die Erfahrungen in Fiktion kleiden und damit Entsetzen in Erzählen wandeln. Arnold Stadler hat mit der Textauswahl in seinem Band "Tohuwabohu" mit biblischen und literarischen Texten gezeigt, dass das Reagieren auf das Entsetzen durch das Erzählen Tradition hat.
Diskutiert wurde bald, wie auf schreckliche Ereignisse mit der nötigen Komplexität künstlerisch geantwortet werden kann. Viele empfanden wohl wie Salman Rushdie, der in seinem Essay "Überschreiten Sie diese Grenze!" meinte: "Wie jeder Schriftsteller auf der Welt versuche ich, eine Möglichkeit zu finden, nach dem 11. September 2001 weiterzuschreiben, einem Tag, der zu einer Art Grenze geworden ist, nicht nur weil die Angriffe so etwas wie eine Invasion waren, sondern weil wir an diesem Tag alle eine Grenze überschritten haben, eine unsichtbare Trennlinie zwischen dem Vorstellbaren und dem Unvorstellbaren, und es sich zeigte, dass das Unvorstellbare real war."
Schreibstörung im Text
Einige Schriftsteller ließen die Schreibstörung in die Texte, an denen sie gerade arbeiteten, einfließen. So schreibt etwa in Gabriele Wohmanns Roman "Hol mich einfach ab" Schriftstellerin Gunna eigentlich an einem Buch übers Älterwerden, nun sitzt sie vor dem Fernseher, sieht Talkshows zum 11. September und ärgert sich über die Kritik an den usa. Ulrich Peltzers Erzählung "Bryant Park" wiederum beschreibt fast filmisch die Großstadt New York, bis mit dem Terrorangriff der Film und mit ihm der Stil reißt.
Und doch hat sich trotz allem Gerede literarisch nicht viel geändert: Thriller stellen auch weiterhin die "Welt in Angst" dar. Die Faszination des Schreckens bleibt. Und Theorien von Verschwörungen, geortet bei den Islamisten oder im Weißen Haus, feierten fröhliche Urstände. Auch Geschmacklosigkeiten bleiben nicht aus. Taktlose Tabubrüche begeht Frédéric Beigbeder mit dem Roman "Windows on the World", in dem er die menschliche Tragödie als Trittbrett für seine peinliche literarische Selbstdarstellung verwendet (vgl. Furche Nr. 22/04, Seite 17).
Verluste und Trauer
Als der lang erwartete 9/11-Roman wurde dieses Frühjahr "Extremely loud & incredibly close" des 1977 geborenen New Yorker Schriftstellers Jonathan Safran Foer gehandelt, der soeben auf Deutsch erschienen ist. Der Ich-Erzähler, der neunjährige Oskar Schell, hat seinen Vater Thomas beim Attentat auf das wtc verloren. Er fühlt sich schuldig, weil er den letzten Anruf des Vaters nicht entgegen genommen hat. Im Zimmer des verstorbenen Vaters hat er in einem Kuvert mit der Aufschrift "Black" einen Schlüssel gefunden, nun sucht er in alphabetischer Reihenfolge alle Blacks in New York auf. Oskar ist ein kluges Kind, das Bücher von Stephen Hawkings liest, sich als Atheist bezeichnet und Tamburin spielt - eine unter mehreren Anspielungen auf Günter Grass' "Blechtrommel".
Oskars Geschichte wechselt mit anderen Erzählebenen ab, etwa den Briefen des Großvaters Thomas an Sohn Thomas, den er nie kennen gelernt hat, denn er ist noch vor seiner Geburt verschwunden, um erst wieder am 11. September 2001 zu seiner Frau zurückzukommen, an dem Tag also, an dem der unbekannte Sohn stirbt. In Dresden hat er einst seine Geliebte Anna samt ungeborenem Kind verloren, in New York später auch noch die Sprache. Er heiratet Annas Schwester. Um zusammenleben zu können, brauchen sie Räume des Verschwindens: teilen sie sich die Wohnung in Something- und Nothing-Zonen.
Die Leere auffüllen
Verluste und Verschwinden ziehen sich als Themen durch den Roman. Das Notizbuch wird so knapp wie die Lebenszeit des Alten und so werden die Abstände zwischen den Schriftzeichen immer enger, schiebt sich die Schrift immer mehr ineinander, bis sie zum unlesbaren Schwarz wird. Die Aufzeichnungen der Großmutter wiederum fallen durch extra Leerzeichen zwischen den Zeichen auf. Sie schrieb (mit der Leertaste) ihre Geschichte einst auf Tausenden von weißen Seiten nieder (und - hier trägt Foer sehr dick auf - stapelte sie zu zwei Türmen, die schließlich zusammenbrechen).
Schrift mit Leerstellen, der leere Sarg beim Begräbnis - viele Zeichen weisen darauf hin, dass das Loch des Ground Zero, die Leere irgendwie aufgefüllt werden müssen. Die Botschaft der Großmutter an Enkel Oskar: Es ist immer wichtig zu sagen, dass man liebt. Und man hat nur ein Leben um das zu tun. Ein Roman also über Kommunikation, Liebe und Verluste, die als Verluste der Sinne dargestellt werden: des Sprechens, des Hörens, des Sehens.
Fotos, Montagen, korrigierte Seiten, Unterschriftsproben und Veränderungen in der Typographie sind nicht nur formale Spielereien, auch wenn man vielleicht als Leser bald übersättigt ist, sie signalisieren: Schmerz und Trauer entziehen sich dem Aufzeichnen durch Schriftzeichen. Und das scheint Foer wichtiger als gesellschaftliche Fragestellungen. Foer bettet den 11. September zwar in die Geschichte vorangegangener (von Amerikanern verursachter) Katastrophen ein: die Bombardierung Dresdens, der Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. Doch die Gräueltaten in Hitlerdeutschland sind seltsam ausgespart.
Gefahrlose Begegnungen
Statt Weltpolitik, Täterfokussierung, Ursachenforschung werden der Mikrokosmos Familie und die Topografie der Stadt zu Sinnbildern der komplexen Beziehungen zwischen Menschen. Die Post-9/11-Wirklichkeit taucht in Nebensätzen auf. Vieles macht Oskar panisch, etwa Aufzüge oder U-Bahnen. Aber auch "Bazillen, Flugzeuge, Feuerwerke, Araber in der U-Bahn (obwohl ich kein Rassist bin), Araber in Restaurants und Coffee Shops und an anderen öffentlichen Orten [...] hohe Gebäude, Turbane". Dabei wird die New Yorker Gegenwart nicht gewalttätig erlebt. Ungehindert marschiert der Bub teils allein, teils in Begleitung durch New York. Eine Utopie? Ein Wunschtraum? New York als eine Stadt, in der sich Menschen über Schranken von Religionen, Bildungsschichten, Wohnorten, Generationen hinweg begegnen können, gefahrlos?
"What about ..." so setzt Oskar fantasievoll am Romanbeginn ein, wie wäre es mit einem Teekessel mit des Vaters Stimme. Oder: "So what about skyscrapers for dead people that were built down?" (Henning Ahrens übersetzt: "Wie wäre es mit unterirdischen Wolkenkratzern für die Toten?"). Oder wenn sie wie Fahrstühle fahren könnten, wäre das sehr nützlich. Denn wenn man sich gerade im 95. Stockwerk befindet und ein Flugzeug schlägt unter einem ein, so überlegt Oskar, könnte das Gebäude einen ins Erdgeschoß fahren, und jeder wäre sicher ...
Antwort auf die Verluste
Lassen Liebe, Fantasie und der Traum von Sicherheit nach dem "worst day", wie der 11. September genannt wird, die Trauer bewältigen? Dieser Roman ist keine literarische Antwort auf die Erfahrung von Terror, sondern von Verlusten. Dieses Buch fasziniert, aber verstört auch, weil es sich, etwa im Unterschied zu Ian McEwans "Saturday" (vgl. Furche Nr. 28/05, S. 11), so unpolitisch gibt und der Wunsch, das Rad der Zeit zurückdrehen zu können, so dominiert. Foer verstärkt dies durch Fotos auf den letzten Seiten, die einen aus dem wtc fallenden Menschen zeigen: sie sind in umgekehrter Reihenfolge angeordnet. Es scheint, als flöge der fallende Mensch zurück, ja himmelwärts. Und der letzte Satz - leider mit "Und alles wäre gut gewesen" übersetzt, das Wort "sicher" fehlt und damit die Klammer des Romans - benennt das Unmögliche: "We would have been safe."
Literatur
SATURDAY
Roman von Ian McEwan
Aus d. Engl. von Bernhard Robben
Diogenes, Zürich 2005
386 Seiten, geb., e 20,50
110 STORIES
New York writes after September 11
Edited by Ulrich Baer. New York University Press, New York 2002. 331 pp., $22,95
MIT FREMDEN AUGEN
Tagebuch über den 11. September, den Palästinakonflikt und die arabische Welt
Von Rafik Schami. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004
156 Seiten, kart., e 20,50
REALLY GROUND ZERO
11. September und folgendes
Von Kathrin Röggla. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2001
109 Seiten, kart., e 8,20
BOCKSGESANG
Antworten auf Fragen vor und nach dem 11. September
Von Gore Vidal. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2003
120 Seiten, kart., e 13,40
CHECKPOINT
Roman von Nicholson Baker
Deutsch von Eike Schönfeld
Rowohlt Verlag, Reinbek 2004
140 Seiten, kart., e 13,30
TOHUWABOHU
Heiliges und Profanes, gelesen und wiedergelesen von Arnold Stadler nach dem 11. September 2001 und darüber hinaus
DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2002. 383 Seiten, kart., e 14,80
ÜBERSCHREITEN SIE DIESE GRENZE!
Schriften 1992-2002
Von Salman Rushdie. Aus d. Engl. von
Gisela Stege, Barbara Heller und Rudolf Hermstein. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 576 Seiten, geb., e 25,60
HOL MICH EINFACH AB
Roman von Gabriele Wohmann
Piper Verlag, München 2003
284 Seiten, kart., e 9,20
BRYANT PARK
Erzählung von Ulrich Peltzer. Berliner
Taschenbuch Verlag, Berlin 2004
171 Seiten, kart., e 9,20
NARRATIVE DES ENTSETZENS
Künstlerische , mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001
Hg. von Matthias N. Lorenz. Verlag
Königshausen & Neumann, Würzburg 2004. 328 Seiten, kart., e 30,70
EXTREM LAUT & UNGLAUBLICH NAH
Roman von Jonathan Safran Foer
Deutsch von Henning Ahrens
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2005
436 Seiten, geb., e 23,60