Wirklichkeit, kein Spiel

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Hans-Christian Schmid kommt in „Sturm“ dem Haager Kriegsverbrechertribunal mit Mitteln des Spielfilms bei.

Der aus dem bayrischen Wallfahrtsort Altötting stammende Regisseur Hans-Christian Schmid (siehe Interview) zählt zu Großen seiner Generation, mit Tom Tykwer teilt er das Geburtsjahr 1965. Längst keine Nachwuchshoffnung mehr, ist er schon mit „Lichter“ aus 2003 im europäischen Kino angekommen. Deutsch-polnische Befindlichkeiten wurden in diesem Spielfilm um Grausamkeiten im Grenzverkehr genauso verhandelt wie im Dokumentarfilm aus 2009 „Die wundersame Welt der Waschkraft“, hier ging es um die verquere Logik globalisierter Wirtschaftsströme. „Sturm“ thematisiert nun den sogenannten „Bürgerkrieg am Balkan“, den Zerfall Jugoslawiens mitsamt der Kriegsverbrechen.

Den-Haag-Tribunal im Spielfilm

Seit 1993 versucht das Tribunal in Den Haag in dieser „menschlichen Katastrophe vor der Haustür“ Recht zu sprechen.

Hannah Maynard (Kerry Fox) ist seitens des Strafgerichtshofes Anklägerin gegen Goran Duriæ, einem ehemaligen General der jugoslawischen Volksarmee. In Kasmaj, einer Kleinstadt in der heutigen Republik Srpska, soll er für die Deportation und spätere Ermordung bosnisch-muslimischer Zivilisten verantwortlich sein. Als sich Maynards Kronzeuge bei einem Augenschein in Widersprüche verwickelt, scheint der Fall verloren. Da trifft sie auf dessen Schwester Mira (Anamaria Marinca), die sich in Berlin ein neues Leben aufgebaut hat und lieber schweigen möchte, da sie ihre Familie nicht gefährden will. Schließlich willigt sie doch ein – allerdings würde sie nicht über die „ethnischen Säuberungen“ in Kasmaj sprechen wollen, sondern über die an ihr und anderen Frauen begangenen systematischen und von Duriæ befehligten Vergewaltigungen in einem Kurhotel.

Schnell wird Miras Absicht ruchbar und ein Politikum, zunächst versucht die Verteidigung, eine Zulassung der Zeugin zu verhindern, für Maynard aber ist die Erkenntnis schmerzlich, dass ihre Gegner in benachbarten Büros sitzen: auf diplomatischem Weg wird ihr nahegelegt, die Vergewaltigungsanklage fallen zu lassen. Um so mehr drängt es jetzt Mira, sich erklären zu wollen, dabei kommt es – und hier mischt sich das Drama mit dem Thriller – zu lebensgefährdenden Attacken, bis der Showdown im Gerichtssaal filmisch aufgelöst wird.

Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans der Zeitgeschichte wird hier die Moralität einer menschlichen Tragödie verhandelt: Unterhaltung mit Haltung in europäischer Dimension.

Schmids Kino operiert stets sehr nahe an einer vorgefundenen Wirklichkeit – gemäß seinem Arbeitsprinzip einer nötigen sorgfältigen Recherche, welche er auch dem Paranoia-Thriller „23 – Nichts ist so wie es scheint“ (1998) rund um den frühen deutschen Hacker Karl Koch und dem im Tübingen der 70er-Jahre samt katholischem Exorzismus angesiedelten „Requiem“ (2006) angedeihen ließ. Um so bemerkenswerter, dass eine Spieldramaturgie in einem Film funktioniert, der auch von der ästhetischen Anmutung in einem dokumentarischen Stil gehalten ist (seit „Lichter“ verantwortet Bogumil Godfrejów die Bilder). So empfand auch die Branche – „Sturmlauf“ im Berlinale-Wettbewerb 2009 und zahlreiche Preisauszeichnungen, zuletzt auch mit „Deutschen Filmpreisen“ – und das Publikum: Die Freude der betroffenen Menschen war sehr groß, als Hans-Christian Schmid seinen Film vor Ort zeigte – endlich wurde „ihre Geschichte“ verfilmt.

Diese Tröstung kann letztlich nur von kurzer Dauer sein, denn Ende 2010 stellt der „Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“, so der offizielle deutsche Titel, allen noch offenen Verfahren zum Trotz seine Arbeit ein.

Sturm (Storm)

D/DK/NL 2009. Regie: Hans-Christian Schmid. Mit Kerry Fox, Anamaria Marinca, Stephen Dillane, Rolf Lassgård.

Verleih: Filmladen. 105 Min.

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