R eligiöse Reformbewegungen wollen zurück zum Ursprung. Luther suchte nach dem "wahren“ Christentum in der Rückbesinnung auf die Bibel. Muslimische Reformer, wie Muhammad Abduh (gest. 1905), haben ebenfalls die Muslime dazu aufgerufen, sich wieder auf den Koran zu besinnen und die historisch entstandene Tradition, wie die islamischen Rechtsschulen, zu verwerfen. Der Salafismus, der als moderne Erscheinung im Islam gilt, steht ebenfalls in dieser Tradition. Salafisten sehen nämlich den vermeintlich "wahren“ Islam ausschließlich in der Rückbesinnung auf den Koran und die prophetische Tradition (Sunna).
So einfach ist eine islamische Reform jedoch nicht. Denn die ganze Tradition zu verwerfen, ist genauso wenig konstruktiv und nicht realistisch wie deren unreflektiertes Beibehalten. Die Reformer, auch die Salafisten, haben es nie geschafft, die Tradition völlig auszublenden und sich ausschließlich auf den Koran zu berufen. Sie selektieren vielmehr Positionen aus der Tradition und meinen dann, diese seien die wahren koranischen Inhalte. Im Grunde sind es jedoch Positionen, die gerade passen und daher dienlich sind. Morgen werden womöglich andere Standpunkte selektiert, die für die Situation vorteilhafter sind.
Eine islamische Reform beginnt daher nicht mit der Rückbesinnung auf den Koran, sondern mit dem Glauben an den Menschen nicht nur als edelstes Geschöpf Gottes, sondern auch als ein Wesen, das durch Vernunft und Erfahrung in der Lage ist, sein Leben konstruktiv zu gestalten. Menschenrechte und demokratische Grundwerte sind menschliche Errungenschaften. Wer an sie nicht glaubt, der glaubt nicht an den Menschen. Und wer an den Menschen nicht glaubt, der glaubt nicht an dessen Schöpfer. Der "wahre“ Islam ist dort, wo die Würde des Menschen als solche am stärksten bewahrt bleibt.
Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Universität Münster
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