Wo die Katzen regieren

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Sind alle, die über Literatur schreiben, bloß lästige Schmarotzer?

Der Baum stirbt unter dem gierigen Gewicht der Kletterpflanzen." So wetterte George Steiner und er meinte mit dem Baum die Literatur, und mit den Kletterpflanzen unter anderem die Literaturkritik. Der Vorwurf ist alt: Literaturkritiker schmarotzen an den Werken der Schriftsteller mit. Während letztere unter womöglich armseligen Bedingungen originäre Kunstwerke schaffen, bereichern sich erstere in bezahlten Jobs durch bloßes Sekundärgeschwafel, das nicht nur verzichtbar, sondern für viele Schriftsteller auch ärgerlich ist. Oder sogar - wie Steiner es mit dem Bild der Kletterpflanze andeutete - die Kunst erstickt. Allüberall also bloßes Getöne eines Geredes über Literatur, statt tönende Literatur selbst? Wozu die vielen Rezensionen und Essays? Lassen sie überhaupt noch die Literatur zu Wort kommen? Genügt nicht die Literatur selbst - und ab und zu ein Interview mit dem Autor, mit der Autorin? Wozu Literaturbeilagen wie diese?

"Der Papierleviathan sekundären Gesprächs schluckt nicht nur das Prophetische (in aller ernsten dichterischen und künstlerischen Erfindung gibt es Prophezeiung und die Prophezeiung von Erinnerung): er spuckt es wieder aus, und zwar reduziert und zerkleinert." Dieser Vorwurf von Steiner ist eine Sicht auf die Dinge. Reduziert und zerkleinert werden Kunstwerke in der Literaturkritik schon durch die Form, in der sie erscheinen. Etwa 3000, 4000, 5000 Zeichen - oder im Rundfunk: ein paar Minuten - geben Werke von manchmal hunderten Seiten wieder, nein, sie geben sie nicht wieder, sondern besprechen sie und zwar immer ärgerlich ungenügend. Denn wie könnte man in den wenigen Sätzen, die einem in einer Rezension zur Verfügung stehen, auch nur annähernd die eigene Lektüreerfahrung erzählen? Denn darum geht es ja: eine Rezension ist ein Bericht über die Reise einer Rezensentin in einen Text.

Aber: Sind Reiseberichte in andere Länder obsolet, sind sie ärgerlich, weil sie nicht das unmittelbare Erlebnis ermöglichen, sondern nur die Erfahrung aus zweiter Hand? Verunmöglichen sie dadurch eigene Reise? Zerstören sie die Länder, von denen sie erzählen? Oder sind Reisereportagen nicht oft auch ein schöner Ersatz für Reisen, die man selbst nicht machen kann oder will? Literaturkritiker sind eine Art Probeleser, sie erzählen eine mögliche Lesart, die von unbekannten Ländern berichtet und ab und zu auch zur Einladung für den Leser wird, selbst eines Tages die Reise in den Text anzutreten.

Und wie erzählen diese Probeleser ihre Leseerfahrungen und ihre Lesart? Höchst unterschiedlich: manchmal fesselnd, manchmal knochentrocken, manchmal enthusiastisch, manchmal böse, manchmal besserwisserisch, manchmal behutsam. Sieht man sich Kritiken an, so können sie oft sprachlich nicht mit den Kunstwerken konkurrieren, über die sie erzählen. Kritiker sind eben meist keine Schriftsteller, aber sie sind Leser, geübte Leser, aufmerksame Leser, kritische Leser, und schon Gotthold Ephraim Lessing wies darauf hin: "Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt."

Kein Feuer mehr?

George Steiner fürchtete, dass sich möglicherweise wegen der vermeintlichen Herrschaft der Literaturkritik "die kreativen Energien, die Kräfte zu wahrhaftigem Erfinden in Literatur und Kunst" der Schriftsteller zersetzen. Denn: "Wo die Katzen regieren, fühlen die Tiger kein Feuer in sich." So ein Vorwurf übersieht aber, wovon Literatur immer schon lebte. Er übersieht, dass auch Schriftsteller gerne parasitär an anderen Texten naschen: an Mythen, an der Bibel, an literarischen Vorläufern, an Zeitgenossen, an Kritiken. Ist Joyce ein Parasit? War Homer je die Quelle? Die Literaturgeschichte ist eine Geschichte der Intertextualität und die Tiger schleichen nachts selber gerne als Katzen herum - und jaulen, wenn man sie nicht beachtet.

Ja, dann jaulen sie. Würde der Journalismus eines Tages die Literatur totschweigen, dann wären selbst jene Autoren, die gerne und mit ähnlichen Argumenten wie Steiner gegen die Literaturkritik wettern, gekränkt. Sie wollen ihre Bücher verkaufen und sind darauf angewiesen, dass andere von der Existenz ihres Werkes erfahren. Ginge es nur darum, so könnte man einfacher und angenehmer Aufmerksamkeit erlangen: durch Anzeigen, durch Werbeeinschaltungen. Das ach so parasitäre Gerede über Literatur ermöglicht aber mehr. Erst das öffentliche Gespräch gibt der Literatur kulturelle Bedeutung. Mehr noch: Kunst wird erst im und durch das Gespräch. Ein Kunstwerk braucht die öffentliche Auseinandersetzung: das "Streiten" über die Ästhetik gibt dem Kunstwerk Bedeutung, das Schreiben über ästhetische Erfahrungen wertet das Beschriebene auf.

Es mag schon werbewirksam sein, wenn ein Autor sein Werk vor laufender Kamera selbst anpreist und erklärt. Kritische Leser werden aber vielleicht immer wieder doch gerne die Stimme einer Dritten hören, unabhängig davon, ob sie nun einen ähnlichen Geschmack wie der Leser hat oder einen ganz anderen. Ein Autor kann gar nicht der verlässlichste Probeleser seines eigenen Werkes sein. Auch deshalb hat Umberto Eco nach seinem Welterfolg "Der Name der Rose" ironisch festgehalten: "Der Autor müßte das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört."

Viele Wegweiser zur Literatur, viele zwischengeschaltete und mehr oder weniger überzeugende Vermittler: Kletterpflanzen und Katzen halten das öffentliche Gespräch über Literatur wach. Aber die beste Leserin des Werkes ist immer noch die Leserin selbst.

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