Wo Land ist, wurde es anderen geraubt

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Philipp Meyer erzählt in seinem opulenten Roman "Der erste Sohn" die Familiensaga eines texanischen Clans und revidiert damit auch amerikanische Mythen.

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Philipp Meyer erzählt in seinem opulenten Roman "Der erste Sohn" die Familiensaga eines texanischen Clans und revidiert damit auch amerikanische Mythen.

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Im Jahr 2009 debütierte der 1974 geborene US-Amerikaner Philipp Meyer mit seinem beeindruckenden Roman "Rost", der in einem heruntergekommenen Städtchen in Pennsylvania angesiedelt war und für seine Figuren nicht viel mehr als trübe Zukunftsaussichten bereithielt. Stand hier der Niedergang einer Region im Mittelpunkt, in der einst die Stahlindustrie boomte, so ist "Der erste Sohn"(im Original "The Son") von weitaus größeren Ambitionen getrieben. Mitte des 19. Jahrhunderts setzt die Geschichte der zu immensem Reichtum und Einfluss kommenden texanischen Sippe der McCulloughs ein und sie erstreckt sich über mehrere Generationen.

Überbordende Fülle

Es geht Meyer, wie er in Interviews preisgab, vor allem darum, die Gründungsmythen der Vereinigten Staaten auf den Prüfstand zu stellen und ihnen vorurteilsfrei gegenüberzutreten. Ja, letztlich scheint es "Der erste Sohn" darauf anzulegen, die historische Wahrheit - was immer das sein mag - endlich zu fixieren. Widerlegt wird so, zum einen, der vor allem durch die Filmindustrie kultivierte Mythos vom ehrbaren weißen Siedler, der den Wilden Westen zivilisiert und die verschlagenen Rothäute besiegt. Zum anderen will Meyer jedoch auch den Gegenmythos vom friedliebenden Indianer, der kein Wässerchen zu trüben vermag, revidieren. Wo Land ist - so die Quintessenz des Romans -, da wurde es einem anderen geraubt. Diese Erkenntnis fügt Meyer in eine Familiensaga ein, die er im südlichen Bundesstaat Texas (aus dem der Autor nicht stammt) ansiedelt und die ein Großteil dessen bündelt, was den amerikanischen Traum lange Zeit prägte.

Im Zentrum des Buches, dem freundlicherweise ein Stammbaum vorangestellt ist, stehen drei Familienmitglieder: Clanregent Colonel Eli McCullough, der just 1836 geboren wird, als sich Texas von Mexiko lossagt und für kurze Zeit Selbstständigkeit erlangt, und - ein notwendiger Erzählkniff - stolze einhundert Jahre alt wird; sein zurückhaltender, auf Ausgleich bedachter Sohn Peter, aus dessen Tagebüchern zu Zeiten des Ersten Weltkriegs zitiert wird, und seine 1926 geborene Urenkelin Jeanne Anne, die sich - getrieben von feministischem Furor - nicht unterkriegen lässt und erkennt, dass die Zeit des Reichtums durch Rinder vorbei ist, und auf die sprudelnden Ölfelder setzt. Sechsundachtzigjährig blickt sie im Jahr 2012 auf ihr ereignisreiches Leben zurück, das von klaren Maximen geleitet war: "Das Wichtigste im Leben ist ein Mann, der das macht, was ich sage."

Meyers Roman, der es auf die Shortlist des Pulitzer-Preises brachte, ist von überbordender Fülle. In jedem Kapitel ist zu spüren, was der Autor an Rechercheraufwand betrieben hat. Hunderte von Büchern habe er gelesen, um über die texanische Geschichte oder die Gebräuche und Lebensformen der Indianer en détail Bescheid zu wissen. Nichts soll erfunden sein, alles verbürgt.

Kein friedliches Nebeneinander

Ohne Frage, Meyer will viel: die Geschichte des sich wandelnden amerikanischen Südens erzählen und gleichzeitig seine Leser mit Mengen an Einzelheiten versorgen. Diese Konstruktion bringt es mit sich, dass wenig Raum bleibt, um psychologische Feinheiten auszubreiten. Zwar mangelt es nicht an Auseinandersetzungen - zwischen dem ungnädigen Eli, der zuletzt vor allem damit befasst ist, seine eigene Legende zu pflegen, und dem nachgiebigen Peter oder zwischen Jeanne und ihrem Vater Charles, der die finanzielle Schieflage der Ranch nicht wahrhaben will -, doch Meyers Augenmerk liegt vor allem darauf, Mosaikstein an Mosaikstein eines Epochenbildes aneinanderzureihen. So packend und atmosphärisch dicht er zu oft zu erzählen weiß, so spürbar ist, dass seine Protagonisten etwas zu beweisen haben, dass sie in erster Linie der historischen Wahrheitsfindung dienen sollen.

Viel erfährt man so über das Zerlegen und Verzehren von Bisons, den Genuss von Gallensaft, das Melken von Klapperschlangen oder die Herstellung von professionellen Pfeilen. Und viel über das (Liebes-)Leben der Comanchen, die den jungen Eli verschleppen und ihn zu einem der Ihren machen -was seinen Ruf als "Indianerkrieger" nur festigt. Und natürlich ist das brodelnde Gemisch derjenigen, die sich Texas im Lauf der Jahre einverleiben wollen, kein Exempel für friedliche Koexistenz, sondern für einen rauen Existenzkampf, in dem nur selten der siegt, der Moral und Ehtik auf seiner Seite weiß. Es zählt das Recht des Stärkeren; wer Land besitzen will, muss es erobern, muss es anderen wegnehmen und seine Widersacher am besten auslöschen. Die mexikanische Familie der Garcias bekommt das beispielhaft zu spüren. Peters Versuche, deren Ansehen hochzuhalten und Schuldfragen abzuwägen, fruchten nicht; als Sündenböcke taugen die Garcias vorzüglich, und so zerplatzt der Traum vom friedlichen Nebeneinander wie eine Seifenblase.

Manchmal überinstrumentiert, manchmal in Fachwissen verstrickt, ist der Roman dennoch ein Wurf, keine Frage, wenn auch wohl kein ganz großer. Seine literarischen Qualitäten bleiben hinter dem zurück, was der Autor an geschichtlicher Aufklärungsarbeit leistet. Dass amerikanische Leser das mehr zu schätzen wissen als die Leser hierzulande, ist zu erwarten. Den Western zu reanimieren, ohne ihn ideologisch zu vereinnahmen, und Geschichtsunterricht am Beispiel der McCulloughs zu erteilen, das freilich ist Philipp Meyer gelungen.

Der erste Sohn

Von Philipp Meyer, aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog, Knaus Verlag 2014. 608 Seiten, gebunden, € 25,70

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