Wunden, die seit 100 Jahren brennen

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In Osteuropa ist der Erste Weltkrieg über die Jahrzehnte präsent geblieben. Die Nationalisten in Ungarn, Rumänien und Bulgarien benutzen das Trauma von damals geschickt für ihre Zwecke. Eine Rundschau.

An jedem 4. Juni läuten in Ungarn landesweit die Glocken. Überall versammeln sich Offizielle vor Denkmälern, auf denen die Silhouette Groß-Ungarns zu sehen ist. Vor dem Parlament marschiert unter den Augen von Staats-, Minister- und Parlamentspräsident eine militärische Ehrenformation auf. "Sie haben uns getrennt, aber sie werden uns niemals auseinanderreißen“, lautet einer der Sinnsprüche an diesem Tag - dem "Tag des Nationalen Zusammenhalts“. Seit 2010 ist der 4. Juni in Ungarn ein gesetzlicher Gedenktag, eingeführt von der nationalistisch-konservativen Regierung unter Viktor Orbán. Erinnert wird an das "Friedensdiktat von Trianon“ 1920, als die Siegermächte des Ersten Weltkrieges Ungarn zwei Drittel seines Staatsgebiets wegnahmen und es der Tschechoslowakei, Österreich, Jugoslawien und Rumänien zusprachen - eine der "größten Tragödien der ungarischen Geschichte“, wie es im "Gesetz zum Nationalen Zusammenhalt“ heißt.

Nicht erst seit diesem Gesetz ist Ungarn das Land, in dem der Erste Weltkrieg, genauer: sein Ergebnis, so präsent und lebendig ist wie sonst nirgendwo in Europa. Nach dem Systemwechsel 1989/90 errichteten viele Städte und Gemeinden Denkmäler zur Erinnerung an den "Schandvertrag“ von Trianon. Bisher erklärte sich jeder postkommunistische Regierungschef zum "Ministerpräsidenten über 15 Millionen Ungarn“, also auch der Ungarn in den Nachbarländern. Und viele Rechtsaußen-Wähler plädieren für eine Grenzrevision. All das führte in den vergangenen 25 Jahren immer wieder zu diplomatischen Konflikten mit den Nachbarn Slowakei, Serbien und Rumänien.

Viele Historiker in Ungarn sehen die zunehmende Politisierung des Ersten Weltkriegs mit Sorge, etwa Krisztián Ungváry, einer der prominentesten Geschichtswissenschaftler des Landes. "Trianon war zweifellos der ungerechteste Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg“, sagt er, "aber es wäre ein guter Ansatz, wenn die ungarische Politik beim Thema Trianon mit weniger Demagogie auskommen würde.“

Auch in Bulgarien gehört der Weltkrieg für einige nicht der Vergangenheit an. An jedem Jahrestag des Friedensvertrags von Neuilly-sur-Seine vom 27. November 1919 fordern die Nationalisten von der rechtsextremen Partei Ataka dessen Revision. Das mit dem Deutschen Reich verbündete Bulgarien musste damals nicht nur die Süd-Dobrudscha an Rumänien zurückgeben und seinen Ägäis-Zugang an Griechenland abtreten, es verlor auch Territorien an das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Diese Gebiete fordert Ataka zurück.

Ganz anders als in der ungarischen oder bulgarischen Geschichtsschreibung wird aus rumänischer Sicht der Erste Weltkrieg als glücklicher Moment gedeutet. Zwar zögerte Rumänien zwei Jahre, bevor es sich 1916 entschied, auf der Seite der Entente in den Krieg zu ziehen, und schon Monate später zeichnete sich eine katastrophale Niederlage ab. Doch das Jahr 1918 brachte Rumänien die einmalige Chance, sein Hoheitsgebiet nicht nur zurückzuerobern, sondern um die Provinzen Siebenbürgen nach Nordwesten und Bessarabien und Bukowina nach Nordosten auszuweiten. So entstand das Königreich "Großrumänien“.

Festakte und Herrschaftsansprüche

Für 2018 plant die Regierung in Bukarest eine ganze Reihe von Festakten, auf denen mit Pomp "Hundert Jahre Großrumänien“ gefeiert werden sollen. Das Thema bietet Gelegenheit für patriotische Diskurse, in denen die ungarischen Autonomieansprüche in Siebenbürgen erneut in die Schranken gewiesen werden, während Vereinnahmungen gegenüber der Republik Moldau immer selbstverständlicher werden.

So sprach Staatspräsident Traian B˘asescu vor einigen Monaten wieder von einer Vereinigung der "beiden rumänischen Staaten“, die als langfristiges Nationalinteresse angestrebt werden solle. Dabei stört ihn nicht, dass weite Teile der moldauischen Bevölkerung solche Ideen ablehnen und sich an die letzte so genannte "Befreiung“ durch die rumänischen Faschisten im Zweiten Weltkrieg erinnert fühlen.

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