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Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Jorge Semprun.

Ein Schriftsteller, der nicht nur anderen, sondern vor allem sich selbst gerne und hartnäckig ins Wort fällt, als käme es dauernd und überall darauf an, einer Einschränkung, einer Berichtigung, einem Widerspruch Platz zu schaffen, wo immer in Erinnerung gerufen wird, wo immer erzählt wird, was passiert ist im letzten Jahrhundert, ein Schriftsteller wie -

Es gibt keinen zweiten Schriftsteller, der in diesem Zusammenhang zu nennen und unmittelbar neben Jorge Semprun zu stellen wäre. Semprun antwortet sogar auf die Frage, was denn die Literatur, das Schreiben ihm bedeute, mit einem Fragesatz, als müsste er erst abwarten, was der Angesprochene ihm erwidert, um daraufhin seinerseits wieder einen Einwand vorbringen zu können: "Ist die Literatur nicht eben der Versuch, die Lust, sogar die Leidenschaft, über das Verschwiegene, das Verdrängte, das Unsagbare zu reden und zu schreiben?"

Über Verdrängtes schreiben

Der Satz, dem Semprun mit dieser Definition widerspricht, der letzte Hauptsatz aus dem "Tractatus logico-philosophicus", lautet bekanntlich: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." Semprun ergänzt freilich dieses Wittgenstein-Zitat, ehe er ganz neu ansetzt: "Wovon man nicht sprechen kann, weil es verboten oder verdrängt ist, weil es nicht zur Rede kommt, nicht in Rede steht, darüber muss man schreiben." Und er fügt hinzu: "Darüber darf man keinesfalls schweigen."

Aber. Dieses Wort, das immer eine Einschränkung, eine Berichtigung, einen Widerspruch ankündigt, tritt in den Vordergrund, sobald Semprun sich anschickt zu erzählen. "Ich komme aus einer katholischen Familie", berichtet er im Gespräch mit Elie Wiesel, "bin aber seit meiner Jugend Atheist." Er ist Atheist geblieben, "in Buchenwald habe ich aber", beeilt er sich gleich zu präzisieren, "dennoch die endgültige Definition meiner Beziehung zu Gott gefunden." Er glaubt keineswegs an Gott. Aber er ist überzeugt, dass "Gott ein Bedürfnis, ein Wunsch, eine Phantasie, eine Notwendigkeit des Menschen ist. Es wird ihn geben, solange es Menschen gibt."

Gott in Buchenwald

Buchenwald, das Konzentrationslager Buchenwald, ist seit seinem ersten Roman "Die große Reise" der zentrale Fluchtpunkt aller Prosa-Arbeiten Sempruns. Die Ereignisse in Buchenwald stehen nicht nur im Mittelpunkt seiner Erinnerungen, die 1994 in Paris und 1995 bei Suhrkamp erschienen sind, auf Deutsch unter dem Titel "Schreiben oder Leben", diese Erlebnisse sind auch in seinen später erschienenen Romanen präsent, auch in seinen Reden, auch in seinen Betrachtungen über das Schweigen und über die Literatur. Sie sind indessen nie festgeschrieben. Denn jede Erzählung, auch wenn sie sich eng an Fakten hält, ist nicht in erster Linie Re-Konstruktion, vielmehr Konstruktion.

Allen Schriftstellern, die nach wie vor noch naiv erzählen, wie es gewesen ist, die also "frömmlerische Warnungs- und Erweckungsprosa" (wie Rudolf Burger sagen würde) verfassen, schreibt Semprun die folgende Geschichte ins Stammbuch: Er habe sich neben seiner ersten Muttersprache, dem Spanischen, im Land des Exils, in Frankreich, die Sprache des Exils als zweite Muttersprache angeeignet. "Zwei Mütter oder zwei Vaterländer zu haben vereinfacht das Leben nicht. Aber zweifellos neige ich nicht zu einfachen Dingen." So habe er beschlossen, "Die große Reise" auf Französisch zu schreiben; und später dann sich überlegt, das Buch auf spanisch herauszubringen, ohne allerdings dabei auf die bereits bestehende Übersetzung zurückzugreifen. - In einem Café in Saint-Germain-de-Prés legt Semprun seine Idee Carlos Fuentes vor. Dieser bestärkt ihn zunächst in seinem Vorhaben, rät ihm jedoch wenig später, noch radikaler vorzugehen und den "ursprünglichen Text zu verraten, um zu versuchen, weiterzugehen", also ein neues Buch zu schreiben, anschließend eine neue französische Fassung herzustellen und endlich auf diesem Wege den Traum jedes Schriftstellers zu realisieren, "sein Leben lang ein einziges, immer wieder erneuertes Buch zu schreiben". Semprun hat diesen Plan nie verwirklicht. Aber er hat ihn andererseits auch nie aus den Augen verloren.

"Das Gedächtnis und das Leben gehören zusammen." Manuel, der Held des Romans "Die Ohnmacht" (2001), hätte beinahe beides verloren. Am 6. August 1945, drei Monate nach der Befreiung aus einem deutschen Lager, stürzt er, von Paris kommend, aus dem Zug, der eben in den Bahnhof von Gros-Noyer-Saint-Prix einfährt, und fällt in eine tiefe Ohnmacht. Allmählich wieder daraus erwachend, beginnt er, sich neu zu orientieren, sich das Erlebte ins Gedächtnis zurückzurufen, sich ins Leben zurück zu begeben.

Jahre später schreibt er, was ihm damals, aber auch vorher und nachher zugestoßen ist, auf: "die Reglosigkeiten des Lebens", "seine winzigen Augenblicke, seine Tiefen, die herzzerreißenden Mißgeschicke des Bewußtseins". Eins ums andere, wie es ihm, scheinbar durcheinander, ins Gedächtnis zurück kommt - Szenen aus dem Spanischen Bürgerkrieg, aus NS-Deutschland, aus der Klinik von Montlignon (übrigens auch aus Wittgensteins Wien): um die Welt wieder zu finden, wenigstens einen Bruchteil der Welt wieder zu finden, die er schon verloren geglaubt hat.

Das ständige Hin und Her zwischen den Schauplätzen und den verschiedenen historischen Phasen, zwischen großen Geschichten und intimen Geschichten, die "Unruhe in diesem Roman" ist gelegentlich sogar dem Erzähler zuviel. Aber es ist andererseits das zentrale Element, das den Roman erst zu einem unvergesslichen Kunstwerk erhebt. Denn "das angstvolle Wachen des Gedächtnisses" ist in diesem Roman nicht nur ein Thema, ein Thema unter anderen Themen, es ist im Wechsel der Szenen vielmehr das Dauernde, das was den aus der Ohnmacht Zurückgekehrten am Leben hält.

Das Gedächtnis wacht

Auch in dem Erinnerungsbuch "Der Tote mit meinem Namen" (2002) berichtet der Ich-Erzähler über Erfahrungen, die ihn nach wie vor nicht mehr loslassen. Der Ausgangspunkt: Ein Toter, einer, der zu den Clochards gehört, zur Gruppe der überall im Lager verachteten so genannten Muselmänner, rettet ihm, dem Erzähler, weil dieser in dessen Identität schlüpfen kann, das Leben. - Der Erzähler aber berichtet nicht nur, schon gar nicht in einem linearen Erzählstrom, was ihm widerfahren ist, er reflektiert auch beharrlich weiter darüber, wie und warum er die Wahrheit sucht, die Wahrheit erfindet, und er springt in seinen Erinnerungen immer wieder vor und zurück, vorzugsweise um alte Einsichten zu revidieren und neue Erkenntnisse zu entwickeln.

Denn das Gedächtnis und das Leben gehören zusammen. Aber immer schon ist das Gedächtnis Geschichte geworden, konstatiert Jorge Semprun in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung an Norbert Gstrein (2001 in Weimar), und deshalb müssten Erzählungen, "ästhetische Erfindungen" die alten Zeugnisse ersetzen, mehr noch: sie müssen "das Gedächtnis der Zeugen, das Autobiographische der Zeugnisse, mutig entweihen".

Der das feststellt, ist kein jugendlicher Stürmer und Dränger. Sondern ein Zeitzeuge, wie er im Buch steht.

Zeuge des 20. Jahrhunderts

Geboren 1923 in Madrid. 1937, während des Spanischen Bürgerkrieges, flüchtet Semprun mit der Familie nach Frankreich. Er besucht in Paris die Schule, studiert Philosophie an der Sorbonne, wird 1941 Mitglied der kommunistischen Widerstandsorganisation der Freischärler und Partisanen, 1942 Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens. 1943 von der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald deportiert. 1945 kehrt er nach Paris zurück, arbeitet zunächst als Übersetzer, später im Auftrag des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Spaniens. 1964 aber wird er von Dolores Ibárruri, der Pasionaria, aus der Partei ausgeschlossen, "buchstäblich exekutiert", "in die äußere Finsternis gestoßen"; und so bleiben ihm, wie er in "Schreiben oder Leben" resümiert, "viele Jahre unproduktiver Illusion erspart, Jahre fruchtloser Kämpfe für die Erneuerung und Reform des Kommunismus, der seinem Wesen, seiner historischen Natur nach unfähig ist, sich zu erneuern." Semprun setzt daraufhin, nachdem "Le grand voyage" ihm schon 1963 den Prix Formentor beschert hat, seine Arbeit als Schriftsteller und Drehbuchautor fort. Er produziert Filme, unter anderem in Zusammenarbeit mit Alain Resnais ("La guerre est finie", 1966) und Costa Gavras ("Z", 1969) und führt unermüdlich sein Prosa-Projekt weiter, um "weiterzugehen". 1988 bis 1991 wirkt Semprun als spanischer Kulturminister, 1994 erhält er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 1995 den Literaturpreis der Menschenrechte; er lebt als freier Schriftsteller in Madrid und Paris.

Noch immer schreibt er über die Wunden und die Wunder der Vergangenheit. "Gibt es Wunder ohne Wunden?" Noch immer fällt er den Zeitgenossen, die stehen bleiben, fällt er sich selbst ins Wort. Am 10. Dezember feiert er seinen 80. Geburtstag.

Der Autor ist Professor für

Germanistik in Innsbruck.

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