Wunschpunsch, Zeitdieb, unendliche Geschichten

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Auch wenn sich die Möglichkeiten des phantastischen Erzählens heute breit und breitenwirksam aufgefächert haben, bleiben Michael Endes Romane attraktiv.

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Auch wenn sich die Möglichkeiten des phantastischen Erzählens heute breit und breitenwirksam aufgefächert haben, bleiben Michael Endes Romane attraktiv.

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Wie hieß er genau, dieser Wunschpunsch, der in Michael Endes gleichnamigem Kinderroman von Zauberrat Beelzebub Irrwitzer und Hexe Tyrannja Vamperl gebraut wurde? Die beiden wollten damit die Umwelt vergiften und sich an den Folgen dieser Vergiftung bereichern. Mit viel "Hackamordax furikrass" wurde ans Werk gegangen, um die Geldzauberformel K n = K o (1+i)n anzuwenden. Doch die beiden haben die Rechnung ohne den Raben Jakob und den Kater Maurizio gemacht. Als kindliche Identifikationsfiguren wirken sie den Bösewichtern entgegen und verhindern den ökologischen Super-Gau.

Bei seinem Erscheinen im Jahr 1989 wurde der naiv-liebenswerte Roman deswegen durchaus kritisch beäugt. Denn drei Jahre nach der Umweltkatastrophe in Tschernobyl erschien es unlauter, drohende Umweltschäden als magischen Akt phantastischer Wesen darzustellen. Dennoch erzählt der Roman natürlich auch darüber, wie sich die Widerstandskräfte der Schwächeren aktivieren lassen, während ein Countdown läuft: Die Kapitel sind nicht mit Zahlen, sondern mit Zeitangaben überschrieben, die sich gefährlich nahe auf fünf vor Zwölf zubewegen.

Reise zur Zeit

Was hier dekorativ eingesetzt wird, zeigt sich im Roman "Momo" als textbestimmend: Zeitdiebe rauben den Menschen - ebenfalls aus finanziellem Interesse - die Zeit. Als erlösende Figur ist ihnen ein Mädchen gegenübergestellt, das den Wert von Lebenszeit im Sinne des kreativen Spiels begreift. In der Ruine eines Amphitheaters scharen sich die Kinder um Momo, von der sie stundenlang zu theatralen Imaginationsprozessen angeregt werden. Auf die Bedrohung dieser Entschleunigung des kindlichen Lebens reagiert Momo mit einer phantastischen Reise dorthin, wo die Zeit herkommt: ins Nirgend-Haus zu Meister Secundus Minitius Hora.

Von da an tritt die Errettung der Welt mit Hilfe einer Stundenblume fast in den Hintergrund der erzählerischen Aufmerksamkeit; denn Michael Ende geht es um einen philosophischen Diskurs über die Zeit gleichermaßen wie um Zivilisationskritik - wobei ein fast weinerlicher Blick auf den Verlust des sozialen Miteinanders der Menschen gleichermaßen wie der als "wahr" begriffenen Werte geworfen wird. Vielleicht regt sich diesbezüglich aber einfach nur das Büchernörgele, das nicht akzeptieren will, das die Oberflächenspannung nachlässt (und ein wenig erschöpft vom Ausmaß der Zeitallegorien und Zeitmetaphern ist). Ein solches Büchernörgele zielt ja auf Machtkonzentration ab und will die Deutungshoheit über den Text wahren. Hätte er sich bereitwilliger auf die Verlangsamung einlassen sollen, anstatt mit der Flagge in der Hand voranzustürmen - so wie es das Büchernörgele in "Der Wunschpunsch" tut? Illustratorin Regina Kehn hat ihm das Gesicht von Marcel Reich-Ranicki gegeben.

Die Figur der Momo selbst jedoch bleibt ungebrochen interessant - führt sie motivisch doch eine prägende kinderliterarische Tradition fort. Als fremdes Kind taucht sie - wie auch Pippi Langstrumpf oder Peter Pan - aus dem Nichts auf und verschwindet ebenso unvermutet wieder. Das Leben derer jedoch, die sich auf das fremde Kind eingelassen haben, verändert sich grundlegend. Was dabei (zumeist im Spiel) stattfindet, ist immer auch ein Fest der Kindheit an sich. Gerade deswegen muss Momo gleichermaßen kindlich wie alterslos erscheinen und entwickelt sich selbst - als Katalysatorin kreativer Prozesse - auch nicht weiter.

Anders als Bastian, dessen phantastische Reise genau darauf ausrichtet ist: Er durchläuft mit Hilfe mühevoller Erkenntnisprozesse jene persönliche Entwicklung, die es ihm ermöglicht, selbstbestimmt in die Ausgangswelt zurückzukehren. Sein Leben wird wortwörtlich neu durchbuchstabiert. Daher erzählt Michael Ende "Die unendliche Geschichte" von A bis Z. Die sechsundzwanzig Kapitel beginnen fortlaufend mit den Buchstaben des Alphabetes, die von Roswitha Quadflieg illustratorisch als ganzseitige Initialen gestaltet sind.

Buch im Buch

Vorangestellt ist jenes Kapitel, in dem das metafiktionale Spiel mit dem Buch im Buch beginnt; das Buch wird als phantastische Schwelle in die Kinder- und Jugendliteratur eingeführt. Nur durch die Schriftgestaltung der ersten Wörter blicken wir durch die Türe eines Antiquariates nach draußen. Wenig später reißt Bastian Balthasar Bux diese Türe von außen auf und flüchtet "zu uns" ins alte, angestaubte Innere. Von hier aus folgen wir ihm auf den Dachboden der Schule, um dort mit ihm in jenem Buch zu lesen, das er aus dem Antiquariat hat mitgehen lassen.

Die Lektüresituation und der gelesene Text werden von da an auf zwei Erzählebenen parallel geführt und in jenem Buch, das wir als Leserinnen und Leser in den Händen halten, durch rote und grüne Schriftfarbe sichtbar voneinander getrennt. Unser eigener Lektürevorgang zielt also darauf ab, den Lektürevorgang Bastians sinnlich und körperlich nachzuvollziehen. Im wortwörtlichen Wechsel zwischen den Erzählebenen sollen auch wir die Zeit vergessen, während die Turmuhr Stunde um Stunde schlägt.

Es sind diese Formen der Komposition, die Michael Endes Roman weiterhin attraktiv machen - auch wenn die Möglichkeiten des phantastischen Erzählens sich im 21. Jahrhundert ebenso breit wie breitenwirksam aufgefächert haben. Unerreicht bleibt Michael Ende in der Kreation der Namen seiner Wesen - von Engywuck bis Ygramul. Der Wunschpunsch war übrigens ein satanarchäaolügenialkohöllischer.

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