Wuppke, Kiez & Kräne

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Die größte Baustelle Europas, Prestige-Spielplatz für ehrgeizige Projekte, pulsierende Metropole und gemütlich-verschlafener Kiez - Berlin ist eine Stadt mit vielen Gesichtern. Ost und West, Alt und Neu prallen hier aufeinander und verleihen der deutschen Hauptstadt ihre ganz besondere Dynamik. Ein Stadt-Porträt aus Streiflichtern: auf Kulturszene, Politik, Architektur - und Kurioses.

Redaktionelle Gestaltung: Sabine E. Selzer

Ostbahnhof. Den Ankömmling empfängt ein akustisches Potpourri: deutsche Dialekte und andere Sprachen, viel Polnisch dabei und Lautsprecheransagen ein- und abfahrender Züge. Willkommen in der Metropole. Sich den Weg durchs Getümmel bahnen, zur S-Bahn Richtung Quartier - allerdings: die Menschenmassen verlaufen sich recht schnell. Spätestens beim abendlichen Spaziergang durch die Innenstadt die Frage, wohin denn alle sich verkrochen haben. Sie sind weder am Alexanderplatz, noch in der Friedrichstraße, schlendern auch nicht "Unter den Linden", durchs Regierungsviertel oder Brandenburger Tor; von dem im Augenblick nicht viel zu sehen ist, weil eingehüllt in eine Werbeplane: für Bild zum 50. Geburtstag. Wir gratulieren und stapfen durch Baustellensand in den Westen. Dort noch ein paar letzte Skater und ein Räumtrupp: heute Blade-Parade, morgen Love-Parade. Jetzt, dazwischen, ist alles recht verschlafen im Tiergarten. Auch die Kranlandschaft Potsdamer Platz. Weniger das neu erbaute Sony-Center, hier regieren Restaurant, Biergarten, Multiplex und Springbrunnen-Plätschern, mit Tischgesprächen zur einheitlichen Einkaufszentrum-Hallenbad-Akustik gemixt. Nicht wirklich ein Geheimtipp, müde Touristen in Grüppchen, und der gelernte Berliner ergreift schleunigst die Flucht, mit der U-Bahn. Die fährt größtenteils oberirdisch. U 15 folgt der alten Stadtmauerlinie, Hallesches Tor, Kottbusser Tor, Schlesisches Tor. Endstation ein ehemaliges Industrieviertel in Friedrichshain, unweit des Osram-Glühlampenwerks, heute schicke Adresse für Werbegrafiker und Designer. Und Nachtschwärmer: Disco-Betrieb in den Stadtbahnbögen, vor dem Klub "Matrix" steht man Schlange.

Über den Dächern von Berlin

Gemütlicher ein paar Häuser weiter (willkommen im Kiez!), vorbei an der East Side Gallery, dem längsten erhaltenen Mauerrest, heute das Werk von 118 Künstlern, und jenseits der Oberbaumbrücke, der einzigen Verbindung zwischen Friedrichshain (einstmals Ost) und Kreuzberg (einstmals West): Nur ein paar Tische drinnen und draußen an der Straße abseits touristischer Pflichtprogrammpunkte, im "Mysliwska" herrscht unprätentiöses Grätzelleben in Reinkultur. Wenn's sein muss, bis der Morgen graut, Sperrstunde jiebs nich in Berlin. Jedenfalls keine polizeiliche.

Gastfreundliche Öffnungszeiten auch in der Reichstagskuppel für alle, die zu später Stunde einen Blick auf die Berliner Lichter-Skyline erheischen wollen. Am besten aber ist es am Nachmittag des nächsten Tages - die einen raven auf der Love-Parade, die anderen sind auf Tour weitab in Potsdam oder Schifferlfahrt; mehr Wasserwege als Venedig hat Berlin, so sagt man. Kurz: Der Reichstag ist verwaist. Fast - im Vergleich zu sonst jedenfalls. Wo im Erdgeschoß das Land regiert wird, hat man vom Dach den Überblick. Auf den liebevoll "Wuppke" (Walter Ulbrichts Prestigekeule) genannten Fernsehturm (auch: "Tele-Spargel") oder den "Lampenladen Mitte", den ehemals nächtens hell erleuchteten Palast der Republik im Osten. Auf das halbfertige Glasdach des Lehrter Bahnhofs, Mega-Baustelle und künftig zentraler Schienenknotenpunkt der Hauptstadt, auf die Baugruben-, Brachland- und Großfirmenarchitekturmeile entlang des Mauerstreifens, auf des Kanzlers Residenz - und auf (für Nicht-Berliner überraschend) viel Grün. Alleen, Tiergarten, kleinere und größere Parks, die Ex-Enklave West brauchte Natur in der Stadt. Auch an der Spree ist's grün. Entlang des Teltow-, Neuköllner Schiffahrts- oder Landwehrkanals. Bei den Wohnwagensiedlungen, Schanigärten und Schiffsrestaurants. Und grün ist es auch um die Platte. Kaum zu glauben, man sei immer noch auf Stadtgebiet, wenn man mit der S-Bahn hinaus nach Marzahn fährt, wo sich Architektur des "real existierenden Sozialismus" erstreckt, so weit das Auge reicht, und mitten drin: das Dörfchen Alt-Marzahn mit Landwirtshaus und Mühle. Hier probiere man Berliner Kindl mit Schuss (= Weizenbier mit Waldmeister- oder Himbeersirup, gelungene Kreuzung zwischen Cocktail und Radler). Rückfahrt mit dem Bus, das Panorama lässt lebhaft an Sibirien denken, hier ist noch unverkennbar Ost. Und das ganz ohne Ostalgie. Die wohnt in der Innenstadt, den Souvenirläden der Hackeschen Höfe oder rund um das Mauermuseum "Haus am Checkpoint Charlie" in der Kochstraße. 600 verschiedene Souvenirs kennt die Statistik: Berliner Luft, Berliner Bär, auf der Beliebtheitsskala ganz oben rangieren Mauersteine oder Trabants im Westentaschenformat; einst zärt-lich Plastikpanzer, Rennpappe, Karton de Blamage oder überdachte Zündkerze genannt, gibt es den "westsächsischen Lumpenpressling" heute als (Blech!-)Modell zu kaufen.

Jenseits des Mauermarketings sind die alten Grenzen aber mittlerweile verschwommen. Auch wenn die Einkommensstatistik immer noch alles andere als ausgeglichen ist, gibt es in Berlin schon längst kein typisch Ost und typisch West mehr - zumindest in den inneren Bezirken.

Pluralistisch zersplittert

Dem "Prenzlberg" - heute westlicher als der Westen - ist weder seine DDR- noch seine Punkvergangenheit mehr anzusehen, er hat die gut Betuchten angezogen und erinnert an Paris. Natürlich an die feinen Viertel.

Auch im "wilden Kreuzberg" ist es heute friedlich. Ehemals besetzte Häuser hat man renoviert - mit Zuschuss des Senats, und längst ist Stadtgeschichte, was einst Underground sich nannte, schimpfte oder preisen ließ.

Was nicht heißen soll, dass sich nichts tut, im Gegenteil. Nicht leicht ist, sich zurecht zu finden. Das kulturelle Leben in Berlin ist eben so pluralistisch zersplittert wie der Rest der Stadt. Jeder Kiez ist anders, und kaum etwas bleibt lange wie es ist.

Sammelsurium multikulturell-kleinstädtischer Zentren, zur Großstadt weniger zusammengeschmol-zen als -geflickt, unübersichtliche Metropole ohne echten Mittelpunkt, größte Baustelle Europas, Ballungsraum der Museen, billigste Stadt Deutschlands, schillerndes Nachtleben, laut, verschlafen und gemütlich: das alles ist Berlin. Und das ist noch lang nicht alles.

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