Zappeln einst und heute

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Einmal muss ich ihm doch ein Ehrenblatt widmen. Er saß in der Bankreihe vor mir, hieß zu seinem Unglück tatsächlich Philipp und hatte Schwierigkeiten, sich ruhig zu halten. Ausgerechnet das aber war damals, als ich stolz in die Volksschule kam, die erste Schülertugend: ruhig sitzen und dem Unterricht mit regloser Aufmerksamkeit folgen zu können.

Also hatte der Zappelphilipp manches zu leiden. Er konnte die Beine einfach nicht unbewegt unter der Bank lassen, sondern wippte unentwegt auf und ab. Er musste, wenn er schon eine ganze schmerzhafte Stunde lang auf seinem Sessel zu sitzen hatte, wenigstes mit diesem schaukeln oder sich auf ihm von links nach rechts werfen. Er war nicht der einzige Zappelphilipp in der Klasse, und ein wenig spürten wir alle, dass ein solcher auch in uns darauf wartete, auszubrechen und loszutollen. Gelang es nicht, ihn zu kontrollieren, setzte es was. Die schlimmste Strafe für den, der zappeln musste, war das Stillestehen in der Ecke.

Kürzlich traf ich ihn nach so vielen Jahren zufällig wieder, wir hätten einander fast nicht erkannt. Im Café erzählte er mir dann, dass er ein eigenes Geschäft habe, eine Familie, die Kinder schon fast erwachsen. Am Ende hat er es all den Despoten zum Trotze, mit denen er es bei der Lehre und beim Militär zu tun bekam und die ihm alle schikanös das Zappeln auszutreiben versuchten, doch geschafft.

Unter den Schülern, belehrte er mich, soll es heute übrigens viel mehr Zappelphilippe als früher geben. Aber sie heißen nicht mehr so. Sie sind die ADHSler, die an der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung leiden. Früher galten sie für schlimm, jetzt gelten sie für krank, einst wurden sie, die für ihre motorische Unruhe nichts konnten, bestraft, heute sollen sie für etwas therapiert werden, was häufig nicht der Therapie, nur der Toleranz bedürfte. Das alles erzählte mir Philipp, mein Schulfreund, und was soll ich sagen: das Tischchen im Café wackelte dabei.

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