Zehn Lieben und acht Filme in 20 Jahren

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Thomas Lehr kreuzt Nabokovs Lolita mit Schrödingers Katze: Ein gelungener Literaturbastard.

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Thomas Lehr kreuzt Nabokovs Lolita mit Schrödingers Katze: Ein gelungener Literaturbastard.

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Nabokovs Katze": Der Titel ist äußerst suggestiv. Nabokov steht für die Erotik, die Katze verweist auf Schrödingers Gedankentier. Ein dicker Doppelköder für Gefühl und Verstand. Nach ein paar Einles-Seiten merkt der Leser, daß nicht zuviel versprochen ist.

Frühlingserwachen in einer deutschen Gymnasiasten-Clique kurz nach '68. Stürmische Pubertät mit LSD, nur wenig entdramatisiert durch Bravoheft und Pille. Ein Fünfzehnjähriger, "Milchgesicht mit schulterlangen Haaren", entdeckt seine erotischen und mathematischen Gaben, bestürzt und besonnen zugleich. Seine erste Liebe - ein Indiomädchentyp im Lolita-Alter - bleibt "unter der Pettingschwelle", packt ihn aber so stark, daß sie ihn lebenslang als Anima/Muse/Beatrice durch alle Orts-, Studien-, Berufs- und Beziehungswechsel begleitet, sie prägt sein Lebensmuster. Wie der Original-Nabokov gezogen wird von seiner Kind-Geliebten, so er vom Suchbild seiner Anima, die er natürlich niemals findet, obwohl er ihr gelegentlich real begegnet. Erregend wirkt das Phantom in alle Neuanfänge herein, und auch zerstörend, wenn die realen Frauen den Einblendungen der Imaginierten unterliegen.

Das Muster des Nichterreichens springt über ins Berufliche: Er wechselt von der Mathematik zum Film, wird Regisseur und Stückeschreiber. Der Mangel wird zum Talent, denn Filmen lebt vom berührungslosen Umgang mit der Welt, Regie ist nie das Selber-Spielen, und in den Stücken erreicht der Autor das Gegenüber nur im Virtuellen. So durchläuft der Nabokov-Wiedergänger in 20 Jahren einen Reigen von zehn Lieben und acht Filmen, von denen einige um diese Lieben kreisen. Ein einfaches, schlüssiges Romanskelett.

Romankunst zeigt sich dann in der Durchführung. Im Grundmotiv sind der Sucher und sein Suchbild paradox. Als Leitmetapher des Paradoxzustands der Welt schleicht Schrödingers Katze herum, jenes berühmte Opfer quantenphysikalischer Realität, das zugleich tot und lebendig zu sein hat. Von dieser Nicht-und-Doch-Struktur ist des Romanhelden lebenslange Quantenfrau, die ihn "zugleich wollte und doch nicht wollte". Das Unmögliche potenziert sich bei ihm dann zur Sucht: "Mit keiner Frau war es so aufregend, nicht miteinander zu schlafen." Lustvoll-lustlos schlafen sie am Ende doch noch miteinander. Stolz resümiert sie: "Schön, daß nie etwas zwischen uns passiert war." 20 Seiten zuvor war es passiert. Schrödingers Katze im Bett: Besser kann man das Paradox der Wirklichkeit nicht demonstrieren.

Auch der Nabokov-Nachfolger selber ist ein Paradox: Einerseits Conquistador, der instinktsicher der Beute folgt, privat bei den Frauen, als Mathematiker im Beweisen, filmend in Mexiko, wo er, gelockt vom Indio-Wesen seiner Anima, auf "der fünfhundert Jahre alten Blutspur des Cortes" reist. Andrerseits ewiger Deserteur, "der hinausrennt, schuldbeladen und atemlos", aus seinen Projekten und Beziehungen. Don Juan liebt die Geometrie, dreht Filme über die Paradoxien des Unendlichen (mit Anweisung, wie man ,halbe Unendlichkeit' begreifen kann), die Schwarzen Löcher als singuläre Punkte in der Welt, den Urknall als Urparadoxon für Schöpfung aus der Katastrophe. Das Paradox erscheint noch oft, beim Süchtigen, beim Gläubigen oder blasphemisch mißbraucht im Gottesurteil, wo der Mensch Gott aus dem Paradox heraus ins Entweder-Oder zwingen will. Das Paradox als Tragstruktur der Welt.

Mit solcher Denkklarheit paart sich Gefühlsklarheit im Erotischen. Die Liebesszenen - einsam, zu zweit, in Bordellgesellschaft - sparen nichts aus, schönen oder verzeichnen nichts, sind auf eine Weise real, daß der Autor literarisch erreicht, was sein Held filmisch nur erträumt: Nicht mehr die Projektion wird vorgeführt, sondern gleichsam das Original. Auch die Männer-Innenwelt ist echt. Erreicht wird "Lustgeborgenheit", aus der sich alles Pornografische verflüchtigt, das Abscheuliche wird in ganz andere Bereiche verwiesen: Gewalt und Lüge, Ekel, Verrat, Betrug. Gefühlsintelligenz dieser Art verdichtet sich in einer kleinen Szene, wo er einem Hürchen in die Kammer nachgeht, bezahlt, merkt, daß sie blind ist, sie filmt in ihren Positionen, sie sich geschmeichelt fühlt, er ihr dann aber bekennt, daß gar kein Film drin war: Die blinde Kamera als Reverenz vor der Behinderung, das Bekenntnis als Schutz gegen heimlichen Betrug. "Zum Abschied küßte er sie auf die Wange, und sie hielt ihn fest und betastete mit langen kühlen Fingern sein Gesicht."

Neben dem roten Faden des erotischen Romans laufen viele Linien, jede nachgehenswert. Etwa die Beziehungsbiografien, von der Erstbegegnung bis zum Abschied. Oder Versuche zu einer Begegnungstheorie: warum es ausgerechnet zu dieser oder jener Begegnung kommt. Immer Linien, nie stehen Figuren zufällig herum. Romankunst auch im Detail, in den pointierten Dialogen, den knappen, scharfzeichnenden Metaphern. Der karge Bühnenraum lenkt alle Aufmerksamkeit aufs Spiel. Die vielen Zitate und Kryptogramme wollen nie angeben, nur anfragen mit Schüler-Charme in Stimmbruchlage: "Kennst du das auch, großer Leser?"

Thomas Lehr, geboren 1957 in Speyer, lebt in Berlin, hat bisher drei Romane geschrieben, für den ersten hat er den Rauriser Literaturpreis bekommen. Alle drei, in ihrer Offenheit, sind Männerbücher. "Nabokovs Katze" ist auch ein Buch für Frauen. Paradox? Ja, paradox.

Nabokovs Katze. Roman von Thomas Lehr Aufbau-Verlag, Berlin 1999. 511 Seiten, geb., öS 348.-/e 25,29

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