Zeit des Aufbruchs

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Goldene siebziger? Waren die 1970er Jahre wirklich so "fein" und idyllisch? Damals war "Krise" - und diese dauert nun schon 50 Jahre.

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Goldene siebziger? Waren die 1970er Jahre wirklich so "fein" und idyllisch? Damals war "Krise" - und diese dauert nun schon 50 Jahre.

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Wenn man von der Mode einmal absieht, gehören die Siebziger Jahre längst zur guten alten Zeit. Es war das "sozialdemokratische Jahrzehnt", in Österreich unnachahmlich verkörpert durch Bruno Kreisky und charakterisiert durch Vollbeschäftigung, klare politische Mehrheiten, gesicherte Staatsgrenzen bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Aufbruchsstimmung - mithin durch alles, was uns heutzutage abzugehen scheint.

"Damals war Zukunft", titelt denn auch die diesjährige Ausstellung auf der niederösterreichischen Schallaburg, die "Die 70er" Revue passieren lässt, und spiegelt damit ein Lebensgefühl, an das man sich heute offenbar gern erinnert. Als Armin Wolf im vergangenen Herbst auf Facebook einen Abgesang auf die "im Großen und Ganzen feine Zeit" der 1970er veröffentlichte und mutmaßte, "dass heute sehr viele Menschen in Österreich eine große Sehnsucht nach dieser Zeit haben", klickten Zigtausende auf "Gefällt".

Nun wissen wir, dass das Gedächtnis, das individuelle wie das kollektive, kein Speicher ist, in dem das Vergangene ordentlich sortiert aufbewahrt wird, sondern ein - mitunter recht kreativer - Selektionsmechanismus. Vermeintliche Erinnerungen an eine gute alte Zeit entpuppen sich bei näherer Hinsicht oft als Projektionen von Wunschbildern in die Vergangenheit. Waren die 1970er Jahre wirklich so "fein" und idyllisch, oder gilt auch hier, wenn auch in einem anderen Sinn, das Bonmot: Wer sich an sie erinnert, hat sie nicht erlebt?

Für den Historiker Eric Hobsbawm endete Anfang der Siebziger Jahre das "Goldene Zeitalter" der Nachkriegszeit, um einer Welt Platz zu machen, "die ihre Orientierung verloren hat und in Instabilität und Krise geschlittert ist". Die Zäsur sei derart einschneidend gewesen, dass Hobsbawm in seiner 1994 publizierten, immer noch frischen Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts sogar zur Metapher vom "Erdrutsch" griff, um die Umwälzungen zu beschreiben, die Anfang der 1970er Jahre zum Durchbruch kamen: der Niedergang der fordistischen Industrie und damit der ökonomischen Basis des Wohlfahrtsstaats, der Kollaps des Bretton-Woods-Systems fixer Wechselkurse 1972, die Erkenntnis der "Grenzen des Wachstums" (Club of Rome-Bericht 1972), die Ölkrise 1973 und die Renaissance "neoliberaler" Wirtschaftsideologie, deren Vordenker Friedrich von Hayek und Milton Friedman 1972 beziehungsweise 1974 den Nobelpreis erhielten.

In Westdeutschland mussten sich Politiker angesichts des RAF-Terrors, der steigenden Arbeitslosigkeit und der Umweltprobleme die Frage nach der "Unregierbarkeit" stellen, und der sozialdemokratische Reformer Willy Brandt stürzte 1974, um dem kühlen Krisenmanager Helmut Schmidt Platz zu machen Goldene Siebziger? Damals war Krise - eine Krise, die gegen Ende des Jahrzehnts auch die (vornehmlich linke) Gesellschaftstheorie erfasste: Jean-Francois Lyotard rief die "Postmoderne" aus, Ulrich Beck die "Risikogesellschaft" und Jürgen Habermas philosophierte über die "Neue Unübersichtlichkeit".

Globale historische Zäsur

Dem Befund des Marxisten Hobsbawm, um das Jahr 1973 eine globale historische Zäsur anzusetzen, hat sich die jüngere, des Marxismus gänzlich unverdächtige Zeitgeschichtsforschung angeschlossen. Sie verhandelt die Epoche der frühen Siebziger als die Zeit "Nach dem Boom" und als "Vorgeschichte der Gegenwart", so die Titel aktueller Studien. In der Tat werden die gegenwärtigen Krisen rückblickend schon in den 1970er Jahren sichtbar, von der Expansion des Finanzmarktkapitalismus und der Staatsschulden über den politischen Islamismus, der mit der iranischen Revolution 1979 seinen ersten Triumph feierte, bis hin zum von konservativer Seite beklagten "Wertewandel", der schwindenden Akzeptanz tradierter Normen, an deren Stelle das Postulat der Selbstverwirklichung tritt.

Doch nicht alles war Krise damals. Am Wertewandel zeigt sich, dass es vom Betrachter abhängt, wie er Veränderungen wahrnimmt, denn er könnte sie ebenso als Aufbrechen verkrusteter Strukturen und die "Pluralisierung der Lebensstile" als Bereicherung verstehen. Die führenden Autoren dieser neuen historischen Meistererzählung, wie etwa der Tübinger Professor Anselm Doering-Manteuffel, betonen daher die "markante Widersprüchlichkeit" der 1970er Jahre, die eben nicht nur die Zeit "nach dem Boom" waren, sondern auch ein hochproduktives Laboratorium sozialer Experimente. Es war die Zeit, als man in WGs zog, Kinderläden gründete und sich in Bürgerinitiativen gegen Atomkraft oder für die Dritte Welt engagierte, als Frauen scharenweise den Herd verließen und arbeiten gingen, diesmal aber nicht, weil sie Geld verdienen mussten, sondern weil sie das als Befreiung empfanden. In diesem Treibhaus der Emanzipation entstanden neue Verhaltens- und Beziehungsmuster, ohne die die digitalisierte Arbeits- und Konsumwelt des 21. Jahrhunderts - paradoxerweise - wohl nicht funktionieren würde.

Der gesellschaftliche Aufbruch der 70er Jahre dient auch der Ausstellung auf der Schallaburg als roter - oder wie man angesichts damaliger Farbpräferenzen auch sagen könnte: oranger - Faden. Wobei die Ausstellungsmacher nicht der Versuchung erlegen sind, eine Design-Orgie zu veranstalten. In der Popkultur haben die 1970er Kultstatus, weil das Alltagsdesign mit dem ästhetischen Funktionalismus brach. Zwar begegnet der Besucher mancher Ikone der Zeit wie dem Bonanza-Fahrrad, dem Sitzsack oder einer Kühltasche mit psychedelischem Blumenmuster in Orange-Braun-Grün, und von etlichen Bildschirmen versprühen Ausschnitte aus Sendungen wie "Am Dam Des","Club 2" oder "Kottan" Retroflair. Insgesamt aber wirkt die Ausstellung überraschend unsinnlich. Erst im letzten, abgedunkelten Raum, der mit lautstarken Beats noch einmal das Disco-Fever weckt, verdichtet sich die Atmosphäre zu jenem Trip, der die 1970er Jahre auch waren für so manchen.

Do-It-Yourself-Ästhetik

In den anderen Räumen dominiert eine Do-It-Yourself-Ästhetik, die ja ebenfalls ein Produkt der Zeit ist und insofern gut zur These der Ausstellung passt, als sie vor allem von den Protagonisten des gesellschaftlichen Aufbruchs entwickelt wurde. In diesem Milieu war die Form zweitrangig, schließlich ging es um wichtigeres: um Frauenrechte, um die antiautoritäre Erziehung der Kinder, um die antiimperialistische Solidarität mit der Dritten Welt und vor allem um die Rettung der Umwelt - Stichwort Zwentendorf.

Ein Ausstellungsbesucher, der die 1970er Jahre als Heranwachsender in der Bundesrepublik Deutschland erlebt hat, nimmt den Eindruck mit, als seien diese in Österreich tatsächlich weniger krass, irgendwie gemütlicher verlaufen. Es gab keinen "Österreichischen Herbst" 1977, selbst die Palmers-Entführung endete glimpflich und war im Übrigen ein BRD-Import. Passt es also doch, das Etikett der "glücklichen Insel", das Österreich 1971 von Papst Paul VI. aufgeklebt bekam?

Vielleicht ist in der österreichischen Geschichte ein retardierendes Moment wirksam, das bewirkt, dass sich globale Entwicklungen hier verzögert und eigentümlich gedämpft niederschlagen. Die Idylle der Siebziger, sei sie nun erinnert oder real, könnte man dann als "Gekaufte Zeit" im Sinne des Soziologen Wolfgang Streeck verstehen, als geglückten Versuch, die finale Krise des demokratischen Kapitalismus in die Zukunft zu verschieben - das heißt in unsere Gegenwart. Andersherum kann man aber auch fragen, ob eine Krise, die bald fünfzig Jahre andauert, noch Krise genannt werden sollte oder ob es sich hier nicht einfach um den normalen Operationsmodus der Moderne handelt. Dann könnte man sich - zum Beispiel auf der Schallaburg - anschauen, wie die Menschen der 1970er Jahre mit dieser Moderne umgegangen sind, und diskutieren, ob einige ihrer Lösungsansätze auch heute noch brauchbar sein könnten.

Die 70er - Damals war Zukunft

Schallaburg, bis 6. November 2016

Mo-Fr: 9.00-17.00 Uhr; Sa, So, Fei: bis 18.00 Uhr

www.schallaburg.at

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