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Obwohl die bildende Kunst vordergründig immer nur einen Augenblick wiedergeben kann, haben zahlreiche Künstler die Zeit und deren Ablauf zu ihrem zentralen Thema gemacht.

Als Gotthold Ephraim Lessing im Jahr 1766 seinen Aufsatz "Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie" veröffentlichte, schrieb er der bildenden Kunst jegliche Nähe zur Zeitlichkeit ab. Der Autor räumt der Dichtkunst Vorrangstellung ein, da diese in einem zeitlichen Nacheinander Handlungen und Zeitabläufe wiedergeben könne; die Malerei stelle hingegen nur einen Augenblick dar. Lessings bis heute berühmte Thesen und seine Unterscheidung in Raum- und Zeitkunst waren auch im 18. Jahrhundert schon anzweifelbar. Seine Gedanken sind nicht falsch, aber unvollständig. Der Dichter hatte offensichtlich einen eingeschränkten Begriff von bildender Kunst vor Augen, der alle Kunsttendenzen vor der Renaissance und der Erfindung der Zentralperspektive ausblendet.

Bilderfolgen offenbaren ...

Aber die bildende Kunst hat seit jeher versucht, das Phänomen "Zeit" zu erfassen. Etwa in der mittelalterlichen Buchmalerei in Form von narrativen Bilderfolgen, wie sie unübertroffen im "Utrechter Psalter" zu finden sind. Auch auf römischen Arbeiten wie dem zweihundert Meter langen Reliefband der Trajansäule (um 106 nach Christus) zeigt sich, dass es der Kunst bereits vor dem 20. Jahrhundert gelang, Zeitabläufe festzuhalten. So läuft das Geschehen der beiden dakischen Kriege auf der Trajansäule vor dem Betrachter durch unzählige Bilder wie ein Filmstreifen ab. Der Ablauf entfaltet sich durch eine lesende Betrachtungsweise wie eine fortschreitende Erzählung und entspricht der chronologischen Reihenfolge der Ereignisse.

Bis heute manifestiert sich in der bildenden Kunst ein ständiges Ringen um die Darstellbarkeit eines Phänomens, das der Mensch nur sehr schwer begreifen kann. Wie lässt sich etwas in einem Kunstwerk sichtbar machen, das sich nicht festhalten lässt, das ständig entschwindet, fragen sich Künstler stets aufs Neue. Gerüche können wir mit dem Geruchssinn erfassen, Farben mit dem Sehsinn, Klänge mit den Ohren. Aber wie nehmen wir die Zeit wahr? Für den Zeitsinn besitzen wir kein eigenes Organ. Um Zeit dennoch ins Bild zu bringen und für den Betrachter erfahrbar zu machen, bedienen sich Künstler unterschiedlichster Mittel. Vor allem die Avantgardebewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren äußert bemüht, sich als Zeitkünste zu etablieren und der Starrheit des "unbewegten" Bildes entgegenzuwirken. So zeigt Marcel Duchamp in seinem epochenprägenden Werk "Akt, die Treppe hinabsteigend II" (1912) eine weibliche Figur in ihrem Bewegungsablauf beim Hinabsteigen einer Treppe; die einzelnen Bewegungen sind auf dem Bild wie bei einer fotografischen Mehrfachbelichtung zu einer Reihe verbunden.

... Geschwindigkeit

Duchamps Innovation wurde von den italienischen Futuristen aufgegriffen. Die italienischen Avantgardisten rund um deren Rädelsführer Filippo Tommaso Marinetti waren jene Kunstbewegung, die größte Energie aufwand, um die Vergangenheit zu eliminieren und mittels Geschwindigkeit und technischem Fortschritt ihrer Zeit voraus zu sein. Unter dem Begriff "Simultanität" haben Künstler wie Giacomo Balla, Gino Severini und Umberto Boccioni ihre Geschwindigkeitsästhetik auf die Spitze getrieben und verschiedene Phasen einer Bewegung "simultan" dargestellt.

Heuhaufen, einen Tag lang

Auf ganz andere Weise hat bereits einer der Väter der Moderne gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Verstreichen der Zeit in seiner Kunst thematisiert. So malte Claude Monet ein und dasselbe Motiv, etwa einen "Heuhaufen" (1891) oder die "Kathedrale von Rouen" (1894) mehrmals zu jeweils unterschiedlichen Tageszeiten und suggerierte so einen Tagesablauf.

Der Zeitfaktor spielt auch bei der Entstehung eines Kunstwerks eine entscheidende Rolle. Dies haben insbesondere die Aktionsmaler und Performancekünstler der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts vor Augen geführt, indem sie Zufall und Geschwindigkeit in den Entstehungsprozess integrierten. Nicht das abgeschlossene Werk, sondern der spontane Moment der Entstehung steht im Vordergrund der Kunst von Jackson Pollock und André Masson; ein Aspekt, den die Aktionskünstler verdichteten, indem die Aktion nur in einem Hier und Jetzt stattfindet und somit mehr als jedes Werk die Vergänglichkeit thematisiert.

Um Vergänglichkeit geht es auch in jenen Arbeiten, die nur für einen bestimmten Zeitraum existieren, um dann zu verwesen oder sich selbst zu zerstören. So verweist der Schweizer Künstler Dieter Roth mit seinen aus Lebensmitteln bestehenden "Schimmelobjekten" auf die organischen Prozesse von Wachstum und Zerstörung - auch auf Endlichkeit der materiellen Existenz. Nur für eine kurze Dauer existierten auch die Objekte der Land-Art-Künstler in den siebziger Jahren. In ihren Installationen inmitten unberührter Natur wurden Zeit und Witterung wie Wind und Regen zu den eigentlichen Akteuren des künstlerischen Aktes. Das vergängliche Kunstobjekt konnte lediglich durch Videoaufzeichnung den Kampf gegen seine Auslöschung durch die Zeit aufnehmen.

Fließende Uhren zeigen ...

Zeit hat schließlich auch in Form von Uhren, Daten und Zahlen als Bildsujets Eingang in die Kunst gefunden. Als Metapher für die Vergänglichkeit der Zeit hat der Surrealist Salvador Dalí das Motiv der fließenden Uhren kreiert und dazu selbst gemeint "Salvador Dalís berühmte weiche Uhren sind, glauben Sie mir, nichts anderes als der zarte, extravagante, einsame paranoisch-kritische Camembert der Zeit und des Raumes, was heißen soll, das adäquate Symbol für den Einsteinschen Zeitraum."

Zu den interessantesten gegenwärtigen Künstlern, die das Vergehen der Zeit zum einzigen Thema ihrer Kunst erklären, gehören On Kawara und Roman Opalka. Der in Japan geborene Kawara markiert nicht nur das Verstreichen der Zeit, indem er seit dem 4. Januar 1966 täglich an unterschiedlichen Orten der Welt ein "Day Painting" mit dem jeweiligen Datum malt. Vielmehr dokumentiert Kawara auf künstlerische Weise, wie in unserer von Informationen und Klassifizierungen gekennzeichneten Industriegesellschaft Zeit gemessen und verstanden wird.

... Vergänglichkeit und Tod

Die eigene Lebenszeit hat der in Frankreich lebende Sohn polnischer Einwanderer Roman Opalka zu einem sensiblen Programm verdichtet. Seit dem Jahr 1965 schreibt Opalka in seinem Projekt "Opalka 1965 / 1 - " mit weißer Farbe ausschließlich Zahlen auf weißgraue Leinwände: Von Bild zu Bild ändert sich der Malgrund und wird zunehmend heller, sodass er irgendwann das Weiß der Zahlen in sich aufnehmen wird - und es so zu einer Art Auslöschungszustand kommt. Roman Opalka interpretiert seine Kunst eschatologisch: "Um die Zeit zu erfassen, muss man den Tod als reale Dimension des Lebens begreifen... Mein Konzept ist einfach und komplex wie das Leben, es entwickelt sich von einer Geburt auf einen Tod zu. So extrem, wie es ist, lässt es mich ein außergewöhnliches Abenteuer erleben. Es ist die extreme Emotion des Seins."

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