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11. März 1938

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Als in den Abendstunden des 11. März 1938 die Schatten über dem Ballhausplatz das Ende der Ersten Republik ankündigten, lag die Schwere der Entscheidungen auf den Schultern zweier Männer: Wilhelm Miklas und Kurt von Schuschnigg. Der Bundespräsident und Oberbefehlshaber Wilhelm Miklas, dem sein Amtsnachfolger, Dr. Karl Renner, in seinen Erinnerungen so ehrende Worte widmete, weigerte sich hartnäckig, den Forderungen Berlins nachzugeben. Bundeskanzler Doktor Schuschnigg. dieser einsame Politiker, dessen Werk und Persönlichkeit weder Freund noch Feind bisher richtig gezeichnet haben, trug neben der politischen auch die militärische Verantwortung, in einer Stunde, da Europa am Beispiel Oesterreich zum erstenmal einen politisch-militärischen Ueberrasehungscoup Hitlers erleben sollte. In seinen Aufzeichnungen hat der einstige Bundeskanzler diese Situation des österreichischen Bundesheeres in knappen Sätzen zutreffend umrissen:

„Bei der Wehrmacht frage ich nicht an. Ich weiß, daß deren Führung eisern zur Stange hält.

Die Armee gehorcht, das ist sicher. Aber ich weiß auch um das Dilemma, das in vielen Einzelfällen Pflicht und Gefühl auseinsndetreißt. Ich weiß um die Tragik, die jeden einzelnen anpackt, wenn das österreichische Heer antreten muß, in einer Lage, die es nicht verschuldet hat und für die es seit zwei Generationen weder bestimmt noch erzogen ist.“

Diese im Jahre 1946 veröffentlichten Betrachtungen, erhärtet durch die Aussagen im Guido-Schmidt-Prozeß, finden eine wertvolle Ergänzung in der Einsicht, die der Historiker heute bereits auf Grund mannigfacher Aufzeichnungen und Akten in die militärpolitische Situation Mitteleuropas in den Märztagen des Jahres 1938 besitzt. Nachträglich, entgegen mancher übelwollenden, oft prominenten Stimme, die dem österreichischen Bundeskanzler und seinen Soldaten Mangel an Widerstandswillen vorzuwerfen geneigt ist, zeichnen sich die Umrisse einer uneinigen europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahre 1938 ab.

Rom. In den vorbereiteten Mobilmachungsmaßnahmen des scheinbar so mächtigen italienischen Heeres spielte der „Fall Oesterreich“ seit 1934 eine hervorragende Rolle. Damals, in den Julitagen, als Dollfuß ermordet würde, waren die motorisierten Kohorten Mussolinis am Brenner die einzige Barriere gegen das Vordringen Hitlers, der noch nicht auf die Unterstützung der noch auf Hindenburg vereidigten Wehrmacht zählen konnte. Seit diesem Tage hatte der italienische Regierungschef die österreichische Verteidigung besonders gefördert. Dem österreichischen Generalstab gab man sogar Beutegeschütze aus dem Jahre 1918 frei, um damit eine wenn auch bescheidene Aufrüstung des Bundesheeres einzuleiten. Aber nur eine einzige Lieferung traf ein. Der Schatten des Abessinienkonflikr.es und die Annäherung zwischen Rom und Berlin verhinderten die weitere Einfuhr von Rüstungsmaterial, wenngleich die kleine, aber erstklassige österreichische Luftwaffe noch immer Ausbildungsbeihilfen von Italien erhielt. Als im Herbst 1936 General Roatta nach Wien kam, sprach man nicht mehr von einer gemeinsamen Abwehroperation, sondern es klang bereits bei den italienischen Gesprächspartnern die starke Rücksichtnahme gegenüber dem künftigen Achsenpartner durch. Konkrete Vorbereitungen fanden nicht mehr statt, und als ein spezieller militärischer Abgesandter Dr. Schuseh-niggs Mussolini die Absicht der Volksabstimmung mitteilte, war ctie kühle Ablehnung der Schlußstrich unter ein Kapitel italienischer

Politik im Donauraum, das einstmals unter europäischen Aspekten begonnen worden war. Wohlbegründet konnte Hitler für den Fall der Begegnung italienischer Verbände auf österreichischem Boden bei einem Einmarsch diese als Freunde bezeichnen, denn seit den Wehrmachtmanövern im Herbst 1937 in Mecklenburg wußte er den italienischen Diktator auf seiner Seite. Auf den Brachfeldern des Manövergeländes, angesichts der Panzerdivisionen Guderians und der Fliegergeschwader Görings, hatte Mussolini endgültig den letzten Widerstand in der Oesterreich-Frage aufgegeben, ohne zu ahnen, wie gigantisch er geblufft wurde — wie wir heute aus den freimütigen Bekenntnissen Guderians eindeutig wissen.

Belgrad — Prag — Bukarest. Das Militärbündnis der Kleinen Entente, begründet als Sicherungsinstrument gegen eine eventuelle Wiedererrichtung der habsburgischen Monarchie, war der Ausdruck eines historischen Angstkomplexes, dessen treibender Motor der tschechoslowakische Staatspräsident Benesch gewesen ist. Die unheilvolle Rolle dieses Politikers, dessen historische Parole zur Zerstörung der alten Donaumonarchie ein Meer von Blut und Tränen zur Folge hatte und durch die Geschichte noch zu Lebzeiten gerächt wurde, liegt heute klar vor den Augen der nüchternen Betrachter der europäischen Situation von 1953. Vergeblich waren die Versuche des österreichischen Kanzlers gewesen, den Ministerpräsidenten Milan Hodza, der einmal vor 1914 im Kreis um den Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand an ein erneutes Großösterreich geglaubt hatte, in der Stunde der Gefahr für eine Rekonstruktion des Donauraumes zu gewinnen. Was 1937 und 1938 in vorsichtigen Gesprächen noch einmal eingeleitet wurde, scheiterte letzten Endes am Machtspruch des Staatsoberhauptes in der Prager Burg, für den der Zusammenschluß des Donauraumes die Vorstufe für eine eventuelle Rückkehr des verhaßten Habsburgergeschlechtes war und blieb. „Lieber Anschluß als Habsburg“ war die Parole der tschechoslowakischen Staats- und Heeresführung, wobei man sich zu sehr in den operativen Auffassungen auf die Bündnisverträge von Paris bis Moskau stützte. Im entscheidenden Moment glaubte Prag, wie wir heute aus Akten wissen, am 11. März den Versicherungen Görings gegenüber dem Gesandten in Berlin, Mastny, mehr als den Warnungen von österreichischer Seite. Belgrad aber blickte hypnotisiert auf Prag und Rom. Seitdem der jugoslawische Ministerpräsident Stojadinovic in einer vertrauiidien Mitteilung vom 23. Februar 193.8 dem deutschen Reichsaußenminister (Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918 bis 1945, Serie D, Band 1, Seite 445) mitgeteilt hatte, daß er eine Aufförderung, an einem Protestschritt der französischen Regietung g^gefl dD etwaigen Anschluß teilzunehmen, rundweg abgelehnt hätte, war jede Hoffnung auf eine militärische Hilfe von jugoslawischer Seite geschwunden.

Einstmals hatten sich die Staaten der Kleinen Entente für den „Fall Ungarn“, von wo aus man die größten Gefahren im Donau-becken befürchtete, zusammengefunden. Dies beweisen die inzwischen bekannt gewordenen Protokolle der verschiedenen Generalstäbe von Prag, Bukarest bis Belgrad; aber Ungarn bedeutete im Jahre 1938 keine „Gefahr“. Nikolaus von Horthys jüngst veröffentlichten Erinnerungen („Ein Leben für Ungarn“, Athenäum-Verlag, Bonn, 1953), beschreiben in einer sehr dürren und abweisenden Sprache, wie wenig ernst man die gegenseitigen Staatsbesuche zwischen Wien und Budapest nahm. Der Reichsverweser selbst zweifelte nach seinen eigenen Worten an der Standfestigkeit der österreichischen Regierung; für ihn war „die Vereinigung der beiden deutschen Staaten die logische Konsequenz der Zerschlagung der österreichisch-ungarischen Monarchie“. Am 4. März 1938 bezeichnete in einer Unterredung mit General Keitel der ungarische Gesandte in Berlin den Anschluß als die vernünftigste Lösung der Oesterreich-Frage.

So verblieben nur mehr die Generalstäbe der Westmächte, England und Frankreich, als potentielle Gegner übrig. Gamelins Versicherung gegenüber dem österreichischen Militärattache: „C'est la guerre!“ war wohl mehr eine ritterliche Geste, da doch in Paris bekannt sein mußte, daß der britische Botschafter in Berlin, wie aus den Aufzeichnungen des teschechoslowakischen Agenten Dwornik hervorgeht, selbst überzeugt war daß Oesterreich nicht zu retten war. So blieb nur mehr — und dies ist eine besondere Tragikomödie der Geschichte — der deutsche Generalstab, dem Hitler die Durchführung des Oesterreich-Abenteuers übertragen sollte. Es ist in den Seiten dieses Blattes („Furche“, 31. März 1951) bereits dargelegt worden, wie sehr zwischen der Krise des 4. Februar 1938 und dem Einmarsch in Oesterreich engste Verbindungen bestanden. Der Chef des Generalstabes des Heeres, General Beck, der einstmals in seiner Denkschrift im Jahre 1934 darauf hingewiesen hatte: „Oesterreich ist der Ausgangspunkt alles Uebels“, war ebenso entmachtet wie die konservativen Kräfte um Fritsch. Und seit der unheilvollsten Stunde des deutschen Heeres, als Blomberg die oberste Befehlsgewalt über Seeckts Heeresschöpfung dem Volkstribunen Hitler förmlich aufgedrängt hatte, gab es keinen Widerstand mehr in der Bendlerstraße, wo man lange Jahre hindurch den Einmarschplan gegen Oesterreich — „Sonderfall Otto“ — bestenfalls als die Ausgeburt politischer Phantastereien betrachtet hatte. Als der österreichische Generalstabschef einstmals in Ungarn General Beck darauf verwies, daß einem eventuellen Einmarsch der Gewalt Gewalt entgegengesetzt werden würde, äußerte sich Beck verständnisvoll. Aber schon bei den Besprechungen auf dem Berghof am 12. Februar 1938 trat der politisch entmachtete Generalstab nur mehr durch Staffagefiguren in Erscheinung, die, wie Jodl in seinen Aufzeichnungen bemerkte, „Schuschnigg zittern lassen sollten“. Franz von Papen beschreibt in seinen Erinnerungen, mit welcher Freude er Brauchitsch beglückwünschte, als gegen 17 Uhr am 11. März der militärische Einmarsch durch den Rücktritt des Wiener Kabinetts scheinbar überflüssig erschien. Denn in den Kreisen des deutschen Generalstabes wußte man, wie aus den Aufzeichnungen des späteren Stabschefs des Feldmarschalls Rommel, General West-phal, hervorgeht, die altösterreichische Soldatentradition sehr zu würdigen und hatte für den scheinbar unvermeidlichen „Zusammenschluß“ die Wahrung der Ueberlieferung der alten k. u. k. Armee im österreichischer Bundesheer als selbstverständlich vorgesehen. Die Würfel fielen aber im permanenten Hauptquartier in der Reichskanzlei um 17.25 Uhr am 11. März.

Hitler begab sich, nachdem er unwiderruflich den Einmarschbefehl an seine nur improvisiert bereitgestellten Streitkräfte erteilt hatte, von Berlin an die österreichisch-deutsche Grenze. Seit .dem 4. Februar 1938, als er die letzten konservativen Widerstände eines Marseiiles gegen Europa in den Kreisen der Wehrmacht mit machiavellistischen Winkelzügen beseitigt hatte, schmückte das goldene Eichenlaub der Generalität die Mütze des Parteiführers. Als die ersten Panzer des 7. und 13. Armeekorps die österreichischen Grenzen überschritten, begann der Marsch gegen Europa. Die in den Geheimakten vorbereiteten Planungen in Rom, Belgrad, Prag, Paris und London waren nur mehr historische Akten. Verlassen von Europa, mußte Dr. Kurt von Schuschnigg, der als k. u. k. Reserveoffizier am 3. November 1918 in einem kleinen Dorf am Tagliamento den Zusammenbruch des großen Donaureiches erlebt hatte, den letzten und schwersten Befehl seines Soldatenlebem geben.

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