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13 Jahre Helmut Kohl: Zwischenbilanz oder schon die Bilanz einer deutschen Ära?

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Wolfram Bickerich, Redakteur des „Spiegel”, versucht in seinem Buch „Der Enkel” eine, wie der Untertitel sagt, Analyse der Ära Kohl zu zeichnen und schildert den Aufstieg Kohls von seiner Wahl zum Sekretär der CDU bis zu den Bundestagswahlen im November 1994. Dabei widmet er sich im wesentlichen zwei Themen: zum einen wird Kohl (natürlich) als der Kanzler der deutschen Einheit präsentiert, zum anderen stellt Bickerich die Beziehungen Kohls zu seinen politischen Zeitgenossen dar.

Kohl erscheint in diesem Buch als souveräner Politiker, der seinen Verpflichtungen ruhig und gelassen nachgeht und dessen Karriere begann, als er mit 33 Jahren Chef der CDU-Fraktion im rheinland-pfälzischen Landtag in Mainz wurde. 1973 wurde er als Bundesvorsitzender der CDU gewählt und nützte neun Jahre später einen Streit in der SPD-FDP-Koalition, um die Liberalen zu einer bürgerlichen Koalition mit seiner Partei zu bewegen.

Damit kam ein Mann an die Macht, der vor allem über eine wesentliche Eigenschaft verfügte: er konnte Entscheidungen verzögern und wurde so zu einem, wie es Franz-Josef Strauß nannte, „Meister des Aussitzens und Ausschwitzens”. Verständlich, daß es diesem Mann schwer fällt, auf Ereignisse wie die deutsche Einheit zu reagieren.

Tatsächlich machte diese Phase des Umbruchs die Schwäche Kohls deutlich. Obwohl die katastrophale Lage der DDR-Wirtschaft und damit die Kosten der Einheit bekannt waren, gab Kohl, nachdem er vom jährlichen Abspeckurlaub zurückgekommen war, bekannt, die Einheit nicht durch Steuern finanzieren zu wollen. Kohl stand zu dieser Fehlentscheidung und agierte in der Angelegenheit, als sei die Fusion zweier Staaten mit unterschiedlichen Wirtschaftssystemen aus der Portokassa zu bezahlen. Bickerich: „Als ob eine historische Chance von den davon Betroffenen nicht auch ehrlich bezahlt werden könnte!”

Kohl befürchtete, sein Konkurrent Lafontaine könnte triumphieren, wenn er sich allgemein anerkannten Argumenten nähern und Steuererhöhungen als unabdingbar erklären würde: „Er dachte in Schablonen des Wahlkampfs, nicht in Kategorien der Vernunft.” Weil er Steueranhebungen ausschloß und Sparmaßnahmen oder Subventionskürzungen auch nicht den neuen Gegebenheiten anpaßte, mußten immer wieder neue, teils abenteuerliche Hilfskonstruktionen und Umwegfinanzierungen gefunden werden. Die Folgen dieser Politik zeigten sich bald: von 1990 bis 1994 stiegen die öffentlichen Schulden um 65 Prozent von 1,1 auf 1,8 Billionen Mark.

Breiten Raum widmet der Autor den Beziehungen Kohls zu seinen Weggefährten. Er zeigt, wie Kohl mit Kontrahenten verfährt. Kohls Kritiker verschwinden aus dem Parlament, weil sie entweder auf höchsten Druck hin nicht mehr nominiert werden oder enttäuscht den Kampf aufgeben. Ähnliches gilt für Kohls Proteges, die er, sollten sie nicht allgemein akzeptiert werden, sofort fallen läßt. So mancher kann von solchen Erfahrungen erzählen, so der (allerdings durch seine unsäglichen Sprüche untragbar gewordene) Präsidentschaftskandidat Steffen Heitmann oder der Bewerber für den Vorsitz der EU-Kommission, der belgische Premier Jean-Luc Dehaene.

Bickerich zeigt auch Kohls Schwächen in der Öffentlichkeit, wie etwa sein Unvermögen, sich auszudrücken, ebenso wie seine Probleme mit großen Gesten, ohne die die deutsche Politik seit Willy Brandt anscheinend nicht auskommen kann. Doch Kohls Gesten wirken, anders als die seines Vorgängers, einstudiert, etwa wenn er mit Francois Mitterrand auf den Schlachtfeldern von Verdun Händchen hält oder den polnischen Premier Mazowiecki umarmt.

Bickerich ist an mancher Stelle inkonsequent, etwa wenn er zu Beginn die Methoden Kohls mit „durchwursteln, repräsentieren und aussitzen” charakterisiert und sie später als Qualitäten eines Staatsmannes preist - der Versuch, Kohls Politik zu hinterfragen, scheitert hier also. Treffend zeigt der Autor Kohls Abnutzung der letzten Jahre auf, und wie dieser die CDU dominiert und damit jede Diskussion und Erneuerung verhindert.

Kohl fehle „der Mut, die> Deutschen mit unpopulären Maßnahmen zu konfrontieren” und „seit der Einheit wird dem Kanzler nur noch gehuldigt”. So beschreibt er die Zustände, die sich in den 13 Jahren der Regierung Kohl breitgemacht haben. Sein Schluß ist ernüchternd: Kohl werde wohl, wie es sein Ziel ist, als Rekordkanzler in die Geschichte eingehen, sein Nachfolger werde jedoch viel zu tun haben, um die verkrusteten Strukturen aufzubrechen.

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