75 Jahre Nürnberger Prozesse, Teil III: Am Ende ein klassischer Mordprozess
Wie die Nürnberger Richter durch die am 1. Oktober 1946 verkündeten Schuldsprüche und Strafen dem rückwirkenden Recht die Giftzähne zogen.
Wie die Nürnberger Richter durch die am 1. Oktober 1946 verkündeten Schuldsprüche und Strafen dem rückwirkenden Recht die Giftzähne zogen.
Die angelsächsische Verfahrensordnung brachte es mit sich, dass in Nürnberg zwei Prozesse geführt wurden: ein öffentlich wahrgenommener politischer Prozess und ein Prozess, bei dem dank drei unabhängigen westlichen Richtern am Ende Strafen herauskamen, die nahezu deckungsgleich denen entsprachen, die sich ergeben hätten, wenn er von Beginn an als reiner Mordprozess angelegt worden wäre.
Der sowjetische Richter I. T. Nikittschenko forderte in allen Fällen die Todesstrafe, doch Geoffrey Lawrence für Großbritannien, Francis Biddle für die USA und Henri Donnedieu de Vabres für Frankreich sprachen zwar mit ihrer Zweidrittelmehrheit eine Reihe von Angeklagten wegen Verbrechen gegen den Frieden schuldig, berücksichtigten diese Schuldsprüche aber mit der einzigen Ausnahme Rudolf Heß in keinem einzigen weiteren Fall bei der Bemessung der Strafe. Alle anderen Strafen entsprachen der Schuld oder Mitschuld der Verurteilten am Tod von Menschen.
Monatelang hatten die Ankläger das Wort und vernahmen die Zeugen der Anklage, nach ihnen waren die Verteidiger und ihre Zeugen am Wort. Die Richter hörten schweigend zu und stellten fallweise Fragen. Selbst als sie am Vormittag des 1. Oktober 1946 die Schuldsprüche (und die Freisprüche von Fritzsche, Papen und Schacht) begründeten, konnte noch niemand ahnen, dass sie mit den am Nachmittag verkündeten Strafen dem Prozess die Giftzähne des rückwirkenden Rechtes gezogen hatten.
Ein neues Völkerrecht
Die zum Tode Verurteilten wurden aufgehängt (Göring zerbiss eine Zyankalikapsel), die alliierten Stäbe zerstreuten sich in alle Winde, die Welt ging zur neuen Tagesordnung des Kalten Krieges über – und der Nürnberger Prozess ging als ein politischer in die Geschichte ein.
Robert Jackson war einer der letzten berühmten Anwälte Amerikas ohne akademische Ausbildung. Präsident Truman entschied sich für ihn, weil er erklärt hatte, man könne die Kriegsverbrecher formlos erschießen, wenn man sich aber zu einem Gerichtsverfahren entschließe, müsse es auch fair sein. Jackson aber hatte sich einen Prozess in den Kopf gesetzt, der ein neues Völkerrecht schaffen sollte.
Er war ein durchsetzungsfähiger Mann, hatte die Macht der USA hinter sich und auch, weil noch niemand wusste, ob man den Angeklagten ihre persönliche Verantwortung für Morde würde beweisen können, lauteten die ersten beiden Anklagepunkte auf Verbrechen gegen den Frieden: Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden, das Kriegsrecht und die Humanität (Anklagepunkt 1), Teilnahme an der Planung, Vorbereitung, Entfesselung und Führung von Angriffskriegen, die internationale Verträge, Abkommen und Zusicherungen verletzten (Anklagepunkt 2). Diese Anklagen bildeten das juristische Novum von Nürnberg unter Missachtung des Prinzips, dass niemand für eine Tat verurteilt werden darf, die zur Zeit der Begehung nicht strafbar war. Punkt 3, Kriegsverbrechen, und Punkt 4, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, konnten sich auf die Mordparagraphen jedes herkömmlichen Strafrechtes stützen.
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