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870 Gramm Fett...

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Die Menschen in der sogenannten „Deutschen Demokratischen Republik“ trauten am 28. Mai dieses Jahres kaum ihren Augen: Die Lebensmittelkarten sollten am nächsten Tage abgeschafft werden. So stand es im offiziellen „Neuen Deutschland“ und in den übrigen Zeitungen der Zone. Als letztes Land des Ost-. blocks, 13 Jahre nach Beendigung des Krieges und zehn Jahre nach Aufhebung der Rationierung in Westdeutschland, sollte in der DDR endlich die Lebensmittelbewirtschaftung aufgehoben werden.

Diese Maßnahme hatte das Regime seit 1953 immer wieder versprochen — aber nie gehalten. Am 29. Mai beschlossen nun die Volks- und die Länderkammer der Zone in gemeinsamer Sitzung: „Alle Lebensmittelkarten werden abgeschafft. Ein neues, einheitliches Preisniveau wird hergestellt. Die Preise für die bisher auf Lebensmittelkarten bezogenen Waren werden erhöht und jene für HO-Waren gesenkt.“

In Mitteldeutschland braucht man keine Lebensmittelkarten mehr, um Fleisch, Fett und Zucker einzukaufen (Kartoffeln und Milch unterliegen einer Sonderregelung). Dafür braucht man Geld, weil die neuen Preise der Grundnahrungsmittel, gegenüber den Preisen, die für rationierte Waren zu zahlen waren, erheblieh höher sind. Das heutige „Preisniveau“ liegt zur Bundesrepublik — dieser Vergleich liegt wohl am nächsten — sind die Preise in der Zonenrepublik nach Abschaffung der Lebensmittelkarten 20 bis 30 Prozent höher. Anderseits liegen dort die Löhne der Arbeiter 10 bis 12. Prozent unter denjenigen Westdeutschland!. Grob gegenübergestellt hat die Bevölkerung in Westdeutschland einen um 30 bis 40 Prozent höheren Lebensstandard als die Bevölkerung in der DDR. Diese Feststellung ist vor allem deshalb interessant, weil sie einen Rückschluß auf die Produktivität der sogenannten „volkseigenen Industrie“ zuläßt. Heinrich Rau, Minister für Außenhandel und Innerdeutschen Handel der DDR begründete das Gesetz zur Abschaffung der Lebensmittelkarten mit folgenden Sätzen:

„Das neue einheitliche Preisniveau entspricht dem erreichten Stand der Arbeitsproduktivität in unserer Volkswirtschaft, schafft ein besseres Verhältnis zwischen den Preisen für Nahrungsmittel und Industriewaren und verbessert gleichzeitig die Preisrelation innerhalb der Nahrungsmittel. Wertmäßig ergeben die Senkung der HO-Preise und die sonstigen Preissenkungen die gleiche Gesamtsumme wie die Preiserhöhungen für die Kartenwaren. Es wurden Warenpreise in Höhe von 2,6 Milliarden Mark gesenkt und gleichermaßen die staatlich verbilligten Preise für rationierte Waren erhöht. Das Preisniveau insgesamt bleibt damit unverändert. Aber die Auswirkungen der Preisveränderungen nach oben und unten sind für die einzelnen Schichten der Bevölkerung völlig verschieden 2.“

Das „Geschenk“, das die Regierung der Zonenbevölkerung bereitet hat, ist bei näherer Nachprüfung gar kein Geschenk. Das Regime hat lediglich - nach den Worten Raus — mit der einen Hand das gegeben, was es mit der anderen Hand über die Preiserhöhung wieder fortnimmt. Wieweit in der DDR nun das Lebensmittelangebot der Nachfrage standhalten kann, bleibt abzuwarten. Besondere Schwierigkeiten dürften durch den chronischen Devisenmangel zu erwarten sein, der es der DDR nicht erlaubt, zusätzlich Lebensmittel einzuführen. Diesem Umstand scheinen jedoch die Wirtschaftsfunktionäre der SED durch eine systematische Geldabschöpfung Rechnung tragen zu wollen.

Mit dem Währungsschnitt vom 13. Oktober des vorigen Jahres wurden schätzungsweise 1,5 Milliarden Mark, die in den Sparstrümpfen verborgen und damit der staatlichen Kontrolle entzogen waren, wertlos. Bei einem Geldumlauf von nicht ganz sechs Milliarden Mark eine beachtliche Summe. Wenn seinerzeit von der sowjetzonalen Propaganda die „Währungsumtauschaktion“ damit begründet wurde, die West-Berliner „Agentenzentralen“ zu treffen, weiß man heute durch die Aufhebung der Rationierung, daß diese Maßnahme ausschließlich zur Geldabschöpfung gedacht war.

Bereits auf der 33. Tagung des Zentralkomitees der SED, die vom 16. bis 19. Oktober 1957 (also drei Tage nach dem Währungsschnitt I) stattfand, ging Walter Ulbricht in seinem Referat über die „Grundfragen der ökonomischen und politischen Entwicklung in der DDR“ auf das Problem der Lebensmittelrationierung ein und sagte: „Der Weg der Abschaffung der Reste der Rationierung — die allerdings mit einem höheren Preisniveau verbunden ist — wird also der Hebung des Lebensstandards dienen . . . Zweifellos wird es gründliche monatelange Arbeit kosten, ein solches Programm auszuarbeiten ..“.*“ Ulbricht deutete auch bereits andere Maßnahmen ah, die mit der Aufhebung der Lebensmittelrationierung durchgeführt werden. Die Lohnzuschläge, die als Ausgleich der hohen Preise an Lohnempfänger gezahlt werden, sollen durch eine Normenerhöhung wieder aus den Arbeitern herausgeholt werden. Im üblichen Parteideutsch der SED erklärte Ulbricht:

„Auch der Anwendungsbereich des Leistungslohnes muß neu geregelt werden. Vor allem aber müssen klare Regelungen auf dem Gebiet der Normenarbeit getroffen werden ... weil eine Verzerrung des Lohngefüges durch die hohe Ueber-füllung der Normen immer wieder zuungunsten der Arbeiter in solchen Industriezweigen vor sich gehen wird, wo die allgemeinen Produktionsbedingungen und die genaue Meßbarkeit der Leistungen eine hohe Ueberfüllung technisch begründeter Arbeitsnormen nicht zulassen ... Die jetzigen Normen bringen nicht eine gerechte Bezahlung nach Leistung zum Ausdruck3.“

Wie das in der Praxis aussieht, erläutert das „Neue Deutschland“: „Vergleicht man die im Wettbewerb erreichte Steigerung der Arbeitsproduktivität mit den Lohnkosten, so zeigt sich folgendes: Die Arbeitsproduktivität pro Leistungsstunde stieg von 47 Mark im Jänner auf 52 Mark im Februar. Für je 100 Stück Gesenkpreßteile wurden im Jänner 3.52 und im Februar 3.5 5 Mark gezahlt ... Da haben wir den Pferdefuß. Soll nämlich die gesteigerte Arbeitsproduktivität uns allen zugute kommen, muß der Lohnanteil sinken. Warum? Gönnt unsere Regierung, unser Staat, den Arbeitern nichts? Eine solche Behauptung ist geradezu lächerlich ... Es geht um die Grundvoraussetzung für höhere Löhne und höhere Kaufkraft, wachsende Produktion und wachsenden Wohlstand, es geht darum, daß die Arbeitsproduktivität schneller wachsen muß als der Lohn ... 5730 Arbeitsnormen wurden bis jetzt in den Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerken von den Arbeitern selbst überprüft. 81.274 Mark Jahresnutzen werden dabei herausspringen.“ Der Pferdefuß ist allerdings der, daß die 81.274 Mark nicht für die Arbeiter herausspringen, sondern daß ihr Lohn um diesen Betrag geringer istl Die Zonenmachthaber sind seit dem Juniaufstand geschickter. Die Normenerhöhungen werden nicht mehr laut verkündet. Die Arbeiter „dürfen“ ihre Arbeitsleistung jetzt selbst einschätzen. Das „Neue Deutschland“ stellt befriedigt fest: „Die Leistung wird steigen, der Lohn wird in der Regel nicht geringer.“ Weniger gewunden drücken sich die betroffenen Arbeiter aus. Sie sagen es offen: Der Lohnklau geht wieder um in der Zone.

Durch diese Lohnmanipulationen sind die Zuschläge, die seit der Aufhebung der Rationierung an die Wenigverdiener gezahlt werden, eine Farce. Durch Mehrarbeit müssen sie diese Zuschläge sauer verdienen. Falls die Arbeiter nicht in der Lage sind, die Arbeitsleistung zu erhöhen, wird eben ihr Normallohn geringer. Der Bruttoverdienst eines Arbeiters erhöht sich nach der neuen Lohntabelle bei einem monatlichen Einkommen von 183 Mark um 37 Mark. Bei 400 Mark sind es 16 Mark, die er mehr bekommt. Bei einem Verdienst von mehr als 800 Mark tritt keine Lohnerhöhung mehr ein. Der höchste Zuschlag beträgt also 37 Mark. Gemessen an der Verteuerung der Lebensmittel ist das ein Betrag, der kaum ins Gewicht fällt. Eingangs wurde bereits gesagt, daß die Preiserhöhung in vielen Fällen 50 Prozent ausmacht. Ein Kilogramm Zucker kostete, um Beispiele zu nennen, auf Lebensmittelkarten 1.12 Mark, jetzt kostet es 1.92 Mark. Ein Kilogramm Margarine auf Marken kostete 2.30 Mark, heute muß man in der Zone für die mittlere Qualität 3.50 Mark bezahlen.

Am stärksten betroffen von der „Einkom-mensumschichtung“ ist die noch vorhandene Privatindustrie, vor allem das Handwerk. Den mittleren Handwerksbetrieben dürfte das SED-Regime endgültig den Todesstoß versetzt haben. Ueber die Steuerschraube und zu nieder festgesetzten Preisen zwingt man jetzt all diejenigen Unternehmer auf die Knie, die sich bisher beharrlich geweigert haben, ihren Betrieb in eine „Produktionsgenossenschaft“ einzubringen. Mit einem honigsüßen Artikel leitete das „Neue Deutschland“ am 12. März dieses Jahres die Aktion gegen das private Handwerk ein. Am gleichen Tage beschloß sodann die Volkskammer das „Gesetz zur Förderung des Handwerks“ und das „Gesetz über die Besteuerung des Handwerks“. Beide Gesetze brachten für handwerkliche Unternehmer einschneidende Bestimmungen. Das erste Gesetz traf vor allem die größeren Handwerksbetriebe, die ihre Produktion teilweise mechanisiert hatten: sie wurden aus der Handwerksrolle gestrichen. Damit traf sie die volle Wucht der Steuerprogression. Ebenso erging es allen Handwerkern, die mehr als drei Beschäftigte haben, wobei Lehrlinge mitzählen. Die Besteuerung der Handwerker erfolgt seit dem 1. April in der DDR unterschiedlich.

Betriebe mit nicht mehr als drei Beschäftigten zahlen die sogenannte „Handwerksteuer A“. Das ist eine Art Pauschalbesteuerung. Alle anderen privaten Unternehmer müssen seit dem 1. April die volle — und nur für die Privatindustrie geltende! — Steuerlast tragen. Begründet wird das neue Steuergesetz wie folgt: „Eine solche Besteuerung ist notwendig, weil nur so der unserem Staat zustehende Anteil am finanziellen Ergebnis dieser Betriebe für die Finanzierung der gesamtstaatlichen Aufgaben beim sozialistischen Aufbau in Uebereinstim-mung mit den sozialistischen Prinzipien des Nationaleinkommens richtig ermittelt werden kann.“

Mit diesen Bestimmungen wurden den Privatunternehmern zunächst einmal die Daumenschrauben angesetzt. Gegenwärtig werden sie über die „Durchführungsbestimmungen zum Gesetz über die Besteuerung“ mehr und mehr zugeschraubt r So. mußr die Privaljruitrjiej :,:Lohnzusclilä; jdjftrAre'iter ryl Mhebung -der Lebensmittelrationierung selbst tragen. Ferner wurde der Einkommensteuertarif erhöht. Die Progression nähert sich jetzt bei Jahreseinkommen von mehr als 15.000 Mark sehr schnell dem Spitzensatz von 90 ProzentI Wer Pech hat, bekommt also neun Zehntel seines Einkommens weggesteuert. Dieser Spitzensatz wird für viele Privatunternehmer deshalb so gefährlich, weil sie seit dem 1. Juli (ab diesem Tage tritt das neue Gesetz in Kraft) keine Familienermäßigung (Kinder-, Gatten- und Altersermäßigung) mehr erhalten. Es würde zuweit führen, die neuen Steuergesetze für (besser wohl: gegen) die Privatindustrie näher zu erläutern. Die Tendenz ist jedoch offensichtlich: Der kleine Rest von privaten Firmen soll in kürzester Frist zum Bankrott gebracht werden. Mit, einem kaum zu überbietenden Zynismus gab Manfred Gerlach, der Generalsekretär der „Liberal-Demokratischen Partei“, das Ziel einer solchen Politik bekannt:

„Den privaten Unternehmern und den individuell wirtschaftenden Handwerkern möchten wir erneut von dieser Stelle zurufen, daß sie der weiteren Entwicklung unserer Volkswirt-' schaff und ihrer eigenen Entwicklung dann am besten dienen, wenn sie althergebrachte Vorurteile überwinden und sich, wie so viele ihrer Berufskollegen, entschließen, ihre Betriebe zu halbstaatlichen Betrieben bzw. zu Produktionsgemeinschaften des Handwerks weiterzuentwickeln.“

Die Aufhebung der Lebensmittel™ lionierung in der DDR, 19- Jahre nach ihrer Einführung, bringt der Bevölkerung zunächst keine wesentlichen Erleichterungen. Vor allem die breite Schicht derjenigen, die ein kleines Einkommen beziehen, werden die Lebensmittelverteuerung zu spüren bekommen. Allerdings sei nicht verkannt, daß die Abschaffung des Kartensystems in der Zone einen Schritt nach vorn bedeutet. Sicherlich wäre es falsch, diese Maßnahme lediglich als Propagandatrick abzutun.

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