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90 Massaker pro Jahr?

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Die „Stockholm Conference on Vietnam“ ist zu einer ständigen Einrichtung geworden, die in regelmäßigen Abständen von verschiedenen Städten in der Welt, vor allem auch von der schwedischen Hauptstadt selbst aus, auf das dem Anscheine nach endlosen Leiden der Völker in einigen Ländern Südostasiens aufmerksam macht. Die diesjährige Herbsttagung fand vom 21. bis zum 25. Oktober wieder in Stockholm statt. Ihr Vorsitzender war Professor Gunnar Myrdal, Leiter des Instituts für Friedensforschung in Stockholm, Teilnehmer waren die noch lebenden Mitglieder des ehemaligen Russel-Tribunales, Politiker aus Südostasien, Wissenschaftler aus mehreren Ländern und eine Reihe von Augenzeugen des blutigen Geschehens in Vietnam und Kambodscha, unter ihnen auch amerikanische Soldaten. Wenn dieses Material zu Beweisen für amerikan9ische Kriegsverbrechen in Vietnam wird, so müsse man — so sagen die Sprecher der Konferenz — die Schuld dafür nicht bei den Teilnehmern und in Stockholm suchen, sondern bei den dafür Verantwortlichen in Washington! Aus zahlreichen Berichten, die zum großen Teil von amerikanischen Soldaten stammen, geht hervor, daß das Massaker von Song My, das im

Vorjahr die Weltöffentlichkeit so erschüttert hat, alles andere als ein Einzelfall war. Allein in der Provinz Quang Nam ist es im Vorjahr zu 90 Massakern dieser Art gekommen. Die Soldaten erzählten in allen Einzelheiten, wie sie Frauen und Kinder ganzer Dörfer zusammengetrieben, in Gräben gestoßen und mit Hilfe automatischer Waffen getötet hätten. Nur selten habe es sich dabei um Männer im waffenfähigen Alter gehandelt. Der Leiter der Vietkong-Gegenregierung in Süd-Vietnam, Nguyen Duc Van, berichtete dazu, daß bei „Strafexpeditionen“ in der Provinz Quang Nam allein im Vorjahr 4700 Menschen getötet worden seien; darunter hätten sich 1959 Frauen und 1557 Kinder befunden. Strafweise seien dabei auch 6000 Büffel getötet und 90 Pagoden oder Kirchen niedergebrannt worden. Die Verlustliste für andere Provinzen Süd-Vietnams ist erschütternd. Der Kommission lagen nicht weniger als 300 Zeugenaussagen amerikanischer Soldaten vor, die das Stattfinden von grausamen „Befriedungsaktionen“ bestätigten.

Ein besonderes Kapitel waren die Berichte über die Erprobung von neuen Waffen an lebenden Objekten und die Anwendung von Giftgasen. Professor N. B. Neiland von der Uni-versity of California legte einen detaillierten Bericht über die chemi sehe Kriegsführung der Amerikaner in Vietnam Vor. Hier entstand ein beklemmendes Bild von der Brutali-slerung des Krieges gegen eine zivile Bevölkerung, denn die hier durchgeführten Maßnahmen treffen nur Selten kämpfende Einheiten. Durch den massiven Einsatz von gewächsbekämpfenden Mitteln gibt es heute auf einer Fläche von 1,1 Millionen Hektar keinen Baum und keinen Strauch, keinen Grashalm und kein Reisfeld mehr, es gibt nachts mehr, was den Tieren Futter geben und den Menschen Schutz bieten könnte. Trotz des amerikanischen Versprechens einer Verminderung der chemischen Kriegführung sei die Anwendung der Gewächsgifte noch vermehrt worden. Prof. Neiland zitierte aus amerikanischen Quellen, daß die USA im Jahre 1969 1,6 Millionen Dollar für solche Gifte bewilligt hätten, für 1970 aber Gifte im Werte von 5 Millionen Dollar! Neiland erinnerte auch an den (über eine schwedische Initiative!) gefaßten Beschluß der UNO, Herbiciden und Tränengas jenen Giften zuzuzählen, die nach dem Genfer Abkommen in der Kriegsführung verboten sind. Doch dieses Abkommen haben die USA niemals unterzeichnet. 1 Bemerkenswert ist die auf der Konferenz sichtbar gewordene Tendenz, die einzelnen amerikanischen Soldaten von einer direkten Verantwortung freizusprechen. Mit aller Kraft wendet man sich jedoch gegen jene militärischen und politischen Führungsstellen, die das Leiden der Zivilbevölkerung ins Endlose hinein verlängern. (Es betrifft allerdings nur die eine der beiden kriegsführenden Mächte. D. R.)

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