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Abbitte an die Ringstraße

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Sind Loos und Ferstel wirklich schon so lange tot, daß sie nebeneinander bestehen können? Verblüfft gesteht eine Generation, die vor fünfzehn, zwanzig Jahren die Wiener Ringstraßenbauten und alles, was mit der Gründerzeit zu tun hatte, einfach scheußlich fand, sich selber ein, daß sie im Irrtum gewesen sein muß. Denn irgendwann begannen uns die Ringstraßenbauten zu gefallen. Wir wollten es zunächst nicht wahrhaben. Wir haben uns lange darum gedrückt, es zuzugeben.

Nicht ohne Irritation müssen wir nun aber doch erkennen, daß die Kategorien, in denen wir damals dachten, als System weiterbestehen, aber die Kraft verloren haben, mit ihnen Unvereinbares auszuschließen. Wir waren Partei und sind es nicht länger. Wir, das heißt: Eine doch recht beträchtliche Zahl von Menschen, denen die Moderne mehr bedeutete a's eine nur-ästhetische Frage.

Einst war uns die Ringstraße ein Prüfstein des guten Geschmacks. Unversehens wurde sie zum Prüfstein der Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Was uns zu schaffen macht, ist nicht die Tatsache, d. ß wir Gelegenheit haben, einen tiefgreifenden Geschmackswandel (falls es nur das ist) zu beobachten. Es ist die Tatsache, daß wir an diesem Geschmackswandel teilgenommen haben und ihn nur noch post festum interpretieren können. Wir haben die Ringstraße verabscheut. Jetzt mögen wir sie. Einer der Gründe ist natürlich das, was man nicht als moderne Architektur, sondern allenfalls als zeitgenössisches Bauwesen bezeichnen kann. Mitspielen mag auch, daß die Fronten, an denen damals gestritten wurde, abhanden gekommen sind — kein Mensch braucht heute mehr die Stadthalle gegen die Oper in Schutz zu nehmen. Noch einiges mehr spielt mit. Die Wiederentdeckung der Gründerzeit ist keineswegs in Wien in Gang gekommen. Dieser Prozeß hat anderswo schon vor einer Reihe von Jahren begonnen. Die Ringstraße wurde nicht nur später geplant und verwirklicht als die vergleichbaren Projekte anderer europäischer Metropolen, was die Erreichung eines Schluß- und Höhepunktes ermöglichte, sie wurde auch später wiederentdeckt, was die Setzung neuer Akzente ermöglicht. Sehr weit gediehen ist die kunstgeschichtliche und ästhetische Durchdringung jener Epoche allerdings auch anderswo einstweilen noch nicht. Es hat den Anschein, als würde die Chance, die sich dadurch bietet, tatsächlich ergriffen. Es gilt, den Beginn eines außerordentlich weitgespannten kunstgeschichtlichen Unternehmens anzuzeigen, dessen Ausgang noch nicht in allen Konsequenzen abgesehen werden kann. Der Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger (Wien-Köln-Graz) begann mit Erarbeitung und Herausgabe einer breit angelegten Publikation, deren erster Band soeben erschienen ist: „Die Wiener Ringstraße — Bild einer Epoche. Die Erweiterung der Inneren Stadt Wien unter Kaiser Franz Joseph. Herausgegeben von Renate Wagner-Rieger.“ Uberhaupt erst ermöglicht wurde das Beginnen durch die Fritz-Thyssen-Stiftung. Das Werk, das voraussichtlich 14 Bände umfassen wird, soll die Ringstraße unter den verschiedensten Gesichtspunkten erschließen, nicht nur künstlerischen, sondern auch bautechnischen, wirtschaftlichen, soziologischen. Der erste vorliegende Band „Das Kunstwerk im Bild“ (Vorwort: Fritz No-votny, Einleitung: Renate Wagner-Rieger, Bildauswahl, Erläuterungen: Klaus Eggert und Hermann Rei-ning, Aufnahmen: Johanna Fiegl) ist ein in jeder Beziehung gewichtiger Bildband, der einstweilen — neben einer Fülle von Detailinformationen — nicht mehr bieten will als einen großen, ersten optischen Uberblick. (Quartformat, 213 Seiten Text, 51 Farbtafeln, 451 Tafeln mit 477 Abbildungen, Übersichtsplan, zwei Teile in Kassette, Leinen, S 1600.—.) Diese Bilder zeigen die Ringstraße, wie sie war und wie sie ist, teilweise bunt gemischt. Was uns dabei am meisten verblüfft, ist die Fülle der niemals so richtig zur Kenntnis genommenen Verluste. Wir meinen nicht die Totalzerstörungen durch Bomben. Wir meinen, zum Beispiel, die abgeklopften Fassaden. Anderswo wird gegen diesen Unfug bereits Sturm gelaufen. Anderswo werden öffentliche Mittel zur Restaurierung nicht nur von Barock-, sondern auch bereits von Gründerzeitfassaden flüssiggemacht. Wir meinen die vielen zerstörten, sprich „modernisierten“ Interieurs (oben: Hauptsaal des Kursalons, ursprünglicher Zustand). Die „abgeräumten“ Kuppeln, die für den Gesamteindruck eines Bauwerkes so entscheidend waren (Mitte links: Maximilianhof, ursprünglicher Zustand). Wir meinen die Bauwerke, die kaum mehr wiederzuerkennen sind, nach Zerstörungen aufgestockt, renoviert ohne Rücksicht auf Verluste (Mitte rechts: Justizpalast). Nur in seltenen Fällen erweist sich ursprünglich Vorhandenes als „aufgesetzt“, haben Teilabtragungen Proportionen vielleicht verbessert (unten: Volkstheater). Verdeckte Verluste — nur ein Teilaspekt der großen optischen Bestandsaufnahme. Aber ein aktueller Teilaspekt, denn an dieser Substanz wird weiter gezehrt

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