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Abendländische Wiedergeburt

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Den Streichen des Nazismus fiel bereits im Juni 1938 ein österreichisches wissenschaftliches Institut von Weltgeltung zum Opfer, die Innsbrucker theologische Fakultät, die, eine Gründung des 17. Jahrhunderts, Jahr um Jahr eine internationale Hörerschaft vor den Kathedern ihrer Gelehrten versammelte. Ahnlich wie der hohe Ruf der Wiener medizinischen Schule, führte die wissenschaftliche Leistung dieser theologischen Fakultät viele Studierende aus den Vereinigten Staaten nach Österreich. Als im August 1938 Papst Pius XI. die aufgehobene Fakultät als päpstliches Institut durch ein Apostolisches Schreiben im Innsbrucker Canisianum wiederherstellte, wurden die Vorlesungen wieder auf-genommen, doch schon am 21. November 1938 beschlagnahmte der Gauleiter Hofer diese Zuflnchtstätte der Fakultät, um sie za vernichten. Professoren und ein großer Teil der Hörer wanderten in die gastfreie Schweiz, wo sie in dem Städtchen Sitten des Kantons Glan den Studienbetrieb wieder aufnahmen. Bei ihrer Schließung hatte die Fakultät in Innsbruck 20 Professoren und 200 Hörer gezählt, von denen ein Viertel Amerikaner waren. Der Zusammenbruch des Nationalsozialismus ließ auch die Theologieprofessoren Innsbrucks wieder zurückkehren und ihre Kanzeln wieder errichten, nicht zuletzt dank der Hilfe Schweizer katholischer Kreise und dem Verständnis der französischen Militärregierung.Bei der Feier der Wiedereröffnung der Innsbrucker theologischen Fakultät hielt Prof. Dr. Hugo R a h n e r als Dekan eine Rede über das Thema „Christlicher Humanismus und Theologi e“, die von so tiefer allgemeiner Bedeutsamkeit ist, daß sie weit über den Kreis ihrer Zuhörer und der Freunde dieser vornehmen wissenschaftlichen Arbeitsstätte Verbreitung verdient.

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Den Streichen des Nazismus fiel bereits im Juni 1938 ein österreichisches wissenschaftliches Institut von Weltgeltung zum Opfer, die Innsbrucker theologische Fakultät, die, eine Gründung des 17. Jahrhunderts, Jahr um Jahr eine internationale Hörerschaft vor den Kathedern ihrer Gelehrten versammelte. Ahnlich wie der hohe Ruf der Wiener medizinischen Schule, führte die wissenschaftliche Leistung dieser theologischen Fakultät viele Studierende aus den Vereinigten Staaten nach Österreich. Als im August 1938 Papst Pius XI. die aufgehobene Fakultät als päpstliches Institut durch ein Apostolisches Schreiben im Innsbrucker Canisianum wiederherstellte, wurden die Vorlesungen wieder auf-genommen, doch schon am 21. November 1938 beschlagnahmte der Gauleiter Hofer diese Zuflnchtstätte der Fakultät, um sie za vernichten. Professoren und ein großer Teil der Hörer wanderten in die gastfreie Schweiz, wo sie in dem Städtchen Sitten des Kantons Glan den Studienbetrieb wieder aufnahmen. Bei ihrer Schließung hatte die Fakultät in Innsbruck 20 Professoren und 200 Hörer gezählt, von denen ein Viertel Amerikaner waren. Der Zusammenbruch des Nationalsozialismus ließ auch die Theologieprofessoren Innsbrucks wieder zurückkehren und ihre Kanzeln wieder errichten, nicht zuletzt dank der Hilfe Schweizer katholischer Kreise und dem Verständnis der französischen Militärregierung.Bei der Feier der Wiedereröffnung der Innsbrucker theologischen Fakultät hielt Prof. Dr. Hugo R a h n e r als Dekan eine Rede über das Thema „Christlicher Humanismus und Theologi e“, die von so tiefer allgemeiner Bedeutsamkeit ist, daß sie weit über den Kreis ihrer Zuhörer und der Freunde dieser vornehmen wissenschaftlichen Arbeitsstätte Verbreitung verdient.

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Der Sprecher erinnerte an die Feier der Heiligsprechung des Deutschen Albert des Großen in Paris in jenem Jahr 1933, in dem in Berlin der Nationalsozialbmus soeben die Macht ergriffen hatte. Damals sprach in der Sorbonne der große katholische Philosoph Frankreichs, Etienne G i 1 s o n, denkwürdige Worte.

Gilson sagte etwa so:

„Erst wenn wir wieder einmal so weit sind wie das unsterbliche dreizehnte Jahrhundert, wird es im Abendland wieder eine Kultur geben; wenn wieder ein Italiener wie Thomas von Aquino in Paris und in Köln lehren kann, wenn ein Deutscher wie Albertus von Franzosen verstanden wird, und ein Engländer wie Duns Scotus mitten in seiner Forschung in Köln stirbt; wenn der Genius der Franzosen, Descartes, in Stöckholm lehren kann und wenn der Genius der Deutschen, Leibniz, auch in der edlen Sprache der Franzosen zu schreiben versteht: erst dann dürfen wir wieder von einer abendländischen Kultur sprechen.“

Gilson, so führte Prof. Rahner dann in seiner Rede aus, hatte recht. Aber wir fragen: was war denn die geheimnisvolle Kraft, die all diese abendländischen Geister damals noch zu einer Gemeinschaft einte? Die Antwort kann nur lauten: das war die unerhörte und bindende Gewalt, die da ausgeht von der Lehre und der Tradition, die gehütet wird von der Mater Ecclesia, der Mutter aller Kultur. Das war jene Gewalt, die von Caen bis hinunter nach Wien die Kathedralen erbaute — und sie standen in diesem Krieg brennend vor uns! Das war der Geist der heiligen Theologie. Darum werden wir Barbaren von heute unser sehnsüchtig erstrebtes Ideal einer humaneren und schöneren Welt nur erreichen, wenn wir wieder zu hören verstehen, was diese Wissenschaft des Heiligen, dieses feinste Erbe der Mutter Kirche, dem verfallenden Abendland zu sagen hat.

Noch hat das Abendland sein letztes Wort nicht gesprochen, noch hat das Abendland alles zu sagen, auch an die Barbaren der Zukunft. Und warum? Warum allein? Diese schwere Antwort können wir nur geben, wenn wir glaubende Menschen sind, die da wissen, daß Gottes ewiges Wort sich gewürdigt hat, in diesen Raum der abendländischen Kultur herabzusteigen, um von da aus die Geister der ganzen Erde an sich zu ziehen, heimzuholen in die schöne Gemeinschaft eines christlichen Humanismus.

Stellen wir also die drängende Frage: was ist denn dieser abendländische Mensch, ohne den es keine neue und schönere Gestaltung der Welt gibt? Und was hat zur Formung dieses Menschen die Theorie beizutragen?

Der Mensch des Abendlandes ist zuerst einmal ein Mensch der Geschichte. Was ich damit meine, hat einmal einer der letzten großen abendländischen Deutschen, Hölderlin, in seinen fast unbekannten historischen Fragmenten dargetan. Er zeigt dort, wie der jugendliche, der revolutionäre, der unreife Mensch in seinem Drang nach Un-gebundenheit versucht ist, alles Vergangene als überwunden und minderwertig abzutun; er bricht mit seiner eigenen Geschichte — und er stirbt daran. Wir alle haben dieses schauervolle Absterben geschichtsleugnender Idologien in unseren Tagen miterlebt.

Wer seine eigene Vergangenheit verrät, wer sie umdichtet und umfälscht, wer seine' eigene Geschichte, seine sogenannte Geschichte, nur immer in die kommenden tausend Jahre hinaus-projizieren kann, der ist ein Barbar geworden und hat seine eigene Mutter verleugnen müssen. Es ist eine Sünde gegen den heiligen Geist des Abendlandes, wenn man einem Volk mit Gewalt verbietet, sich an seiner eigenen Geschichte zu freuen, wenn man versucht, ihm seinen historischen Stolz zu entmannen.

Und auch diese tiefe Bitterkeit haben wir alle an der eigenen Seele verspüren müssen! Anders der wahrhaft abendländische Mensch. Er weiß um die Wurzeln des Vergangenen, ans denen seine Gegenwart gewachsen ist. Er ist überzeugt davon, daß man d i e Herkunft unse.er Kultur aus dem Königreich des griechischen und des römischen Geistes niemals ungestraft verneinen kann — und darum weiß er auch, daß er das Christentum und seine europäische Geschichte, daß er die Kirche nicht mehr wegdenken und wegdisputieren kann aus dem Ideal eines humanen Abendlandes. Denn die Kirche ist mit der unbesiegbaren Keimkraft und Sprengkraft, die allem wahrhaft Lebendigen eigen ist, j die innerste Mitte unseres Geisteslebens hineingewachsen.

Hier nun setzt aber ein, was wir mit der zweiten Frage als Antwort suchen: was trägt die heilige Wissenschaft der Kirche zur Neuformung dieses abendländischen Menschen der Geschichte bei?

Diese Frage stellt sich jeweils von neuem vor allem in den Zeiten eines geistigen Zusammenbruchs, wo die rein irdischen Güter eines schönen und humanen Lebens plötzlich schal und fragwürdig werden. Aus dieser geistigen Situation heraus hat nach dem österreichischen Zusammenbruch des letzten Weltkrieges einer der feinsten Geister unseres alten Vaterlandes, Hugo von Hofmannsthal, in einem Brief an Carl Burckhardt, den heutigen Vertreter der Schweiz in FranlÄ-eich, das tiefe Wort geschrieben: „Es ist der weite Horizont der katholischen Kirche, das einzige großartige Altertum, das uns im Abendland geblieben ist — alles andere ist ja nicht groß genug, es bleibt ans fast nichts. Ich sehe den Moment, ja er ist eigentlich schon da, wo uns dieser ganze Humanismus des deutschen 18. und 19. Jahrhunderts als eine paradiesische Episode erscheinen wird — iber durchaus Episode.“

Genau so ist es nun auch heute; nur noch schärfer, nackter und unerbittlicher steht diese Entscheidung vor uns. Mit einem reinen, unverbindlichen und vornehm sich von der Kirche distanzierenden Humanismus können wir die abendländische Welt nicht mehr retten. Aber da kommt nun die Theologie, diese erhabene Wissenschaft, die da ist „fides quaerens intellectum“ — Glaube, der mit Hilfe der besten Gut griechischer Weisheit das Verstehen dei göttlichen Offenbarung erstrebt und aufbaut; heilige Wissenschaft, deren innerste! Prinzip die „sacra traditio“ ist, der lebendige Zusammenhang mit allem, was je geschichtlich innerhalb der Kirche seit zwei Jahrtausenden gedacht wurde. Das ist nun nicht mehr bloß der schöne Luxus einer humanistischen Flucht in die Vergangenheit, nicht mehr bloß ein feinsinniges Historisieren in ein paar noblen Zirkeln erlesener Geister. Nein, für die Theologie ist das Vergangene heilig verpflichtende Gegenwart, und so wird der theologisch denkende Mensch wahrhaft zu einem Menschen der Geschichte in einem ganz anderen und tieferen Sinn. Alles, was je groß und wahr gedacht wurde in der Geschichte des Geistes, ist in den Kreis der Theologie für immer einbezogen. Piaton und Aristoteles stehen durch die christliche Philosophie (ohne die es keine Theologie gäbe) für immer im heiligen Tempelbezirk der Kirche. Für alle kommenden Zeiten wird die Theologie den vom Heiligen Geist diktierten Text ihrer kanonischen Bücher in der Sprache der Griechen lesen. Und wenn auch alle Barbaren der Zukunft des Lateins vergäßen: die Theologie wird den Ertrag ihrer Forschung immer in der heiligen Sprache der Römer lehren, in der Sprache, die auch Thomas von Aquino und das Mittelalter noch gesprochen haben. Wenn darum von dieser Lehrkanzel aus in den Lauten von Hellas und von Rom gesprochen wird, dann Wahrheitsträgern, die sich damit vollzieht, ein erhabener Beitrag zur Formung auch eines abendländischen Denkens, das die Völker wieder einen könnte, eine Fortsetzung des völkereinenden Sprachwunders vom ersten Pfingsttag, ein Abglanz von jenem Mittelalter, dessen Genius uns Etienne Gilson in seiner Pariser Rede beschworen hat.

Damit komme ich zum zweiten Merkmal des abendländischen Menschen: er ist ein Mensch der Einheit. Wir alle haben es in Blut und Tränen miterlebt, wohin die Kulturwelt abirrt, wenn sie zerrissen wird von Ideologien eines bloß sozialen oder rassischen Einheitsideals. Und doch:

alle ökonomischen und politischen Sehnsüchte unserer Zeit, alle Appelle der vergangenen Propaganda an das Verlangen der europäischen Menschen nach einem Völkerbund oder einem neuen Einheitsstaat und einer neuen abendländischen Ordnung, sind im Grunde nur Äußerungen einer Grundkraft, die die Geister unseres unglücklichen Kontinents nicht mehr zur Ruhe kommen läßt, weil wir alle doch einmal eine einheitliche Familie von Völkern gebildet haben. Wir waren einst Brüder, die einer gemeinsamen Mutter gehorcht haben: seitdem gehören wir auf Gedeih und Verderben zusammen.

Das Abendland kann nur Kind oder Apostat der Mater Ecclesia sein. Das Christentum ist für die Gemeinschaft von Europa Fall oder Auferstehung. Und die Geschichte unserer Tage führt uns vor, daß ein Volk, das einmal getauft war, von diesem göttlichen Geschick nicht mehr loskommt. Das Blut Gottes klebt uns zusammen. Hier aber tritt wieder die Theologie vor, • um uns dieses seltsame historische Geschehen zu deuten: denn nur sie kann es, weil nur sie hinabzublicken vermag in die Tiefen der Grundkräfte, aus denen die Phänomene des Geschichtlichen aufsteigen. Die Theologie allein weiß aus der Offenbarung Gottes, daß die unheilvolle Trennung der Völker eine Folge der Ursünde ist, darum betet die Kirche am Königsfest Christi von den „Familien der Völker, die da durch die klaffende Wunde der Sünde auseinander gerissen sind“, und fleht, sie möchten doch wieder eins werden unter dem süßen Königsjoch des Herrn. Niemals kann also die Kirche und ihre Theologie das bezaubernde Ideal vergessen, das da inbegriffen ist in der Sehnsucht nach einer humanen und schönen Einheit unter den Menschenvölkern. Sie kann auch in der tiefsten Schmach und im abgründigsten Fall eines Volkes noch das zukunftsträchtige Keimgut einer neuen“ Einigung aussäen. Die katholische Theologie weiß sich in diesem scheinbar maßlosen Idealismus geborgen und gestärkt in jener Kraft, die da aufruht auf dem Felsen des römischen Petrus: das Abendland bleibt trotz allem das Heilige Herz der Welt, weil es in seinem Mittelpunkt Rom birgt und seinen Bischof, und weil von Rom aus die Blutwellen neuen Lebens in den siechen Leib des Abendlandes pulsen.

Diesen erhabenen Gedanken, an dem all unsere todtraurige Geschichtsmüdigkeit freudig aufleben müßte, hat Papst Pius XII. in einer seiner herrlichen Weihnachtsbotschaften über die „Friedensordnung der Völker“ mit folgenden Worten ausgesprochen: „O christliches Rom, dieses Blut ist dein Leben. Durch dieses Blut bist du groß und verklärst mit dieser deiner Größe selbst die Ruinen deines heidnischen Glanzes, reinigst und weihst die Bücher der Rechtsweisheit deiner Prätoren und Cäsaren.Mutter warst du einer höheren und menschlicheren Gerechtigkeit, die dich ehrt und deinen Thron und die, die dich hören. Du bist ein Leuchtturm der Gesittung, und das zivilisierte Europa und die Welt verdanken dir das Höchste, was an Weihe und Heiligkeit, an Weisheit und Sittlichkeit ihre Völker und deren Geschichte verklärt. Du bist eine Mutter der Liebe, deine Annalen, deine Denkmäler, deine Schulen und Universitäten sind Triumphzeugen deiner Liebe, die alles umfaßt, alles leidet, alles hofft, alles unternimmt, um allen alles zu werden und zu der Freiheit aufzurufen, die Christus dem Menschen geschenkt hat, um sie zu jener Ruhe und jenem Frieden zu führen, der die Völker zu Brüdern und die Menschen aller Zonen, so verschieden sie auch sein mögen in Sprache und Sitte, zu einer einzigen Familie, die Welt zu einem einzigen Vaterland macht.“

Um dieses Bild des abendländischen Menschen zu runden, ist indessen noch ein drittes Merkmal einzutragen: der abendländische Mensch ist ein

Was ich mit diesem feinsten Merkmal einer echten Kultur meine, wird uns am greifbarsten, wenn wir uns der Barbarei des Geistes erinnern, in die die kriegsverhetzten Völker der Welt in unseren Tagen getrieben wurden. Das Schreien der Lautsprecher, die Superlative der Propagandaminister, das eiserne und doch so hohle Siebgebärden von heroischen Schwächlingen: das alles hat Zerstörungen in dem feinen Organismus des wahren Menschentums angerichtet, daß wir verzweifeln möchten an einer Genesung der Seelen. Wie ferne und unrettbar verloren scheint uns doch die stille Zeit zu sein, wo Beethoven seine Musik schrieb im Schatten niederösterreichischer Weinranken, wo Stifter die keuscheste Wortkunst formte und wo der Mensch noch leben konnte, wie es seine Seele verlangte. Ist das alles wirklich für immer dahin? Oder höchstens noch Gegenstand der liebenden Forschung für ein paar Aristokraten des Geistes, die sich aus der Gosse unserer Zeit fortflüchten in dieses Zauberland der blauen Blume? Können wir wieder Menschen werden, deren Seele sich in Freiheit und aufatmender Kraft entfalten kann — also Menschen von Kultur? Menschen der schönen Mitte? Was meine ich damit? Dieser abendländische Mensch ist ein Wesen, das sich nicht mehr ausliefern braucht an die dämonischen Gewalten der Übertreibung, der Einseitigkeit, des militaristischen Entweder-Oder. Er wäre ein Mensch, der zwar keineswegs sich zurückzieht in ein letztlich doch unfruchtbar bleibendes Reich von romantischen Träumereien, der aber dennoch und in erster Linie alles Gute und Schöne in der Natur und in der Kunst, in der Menscheriseele und im Völkerleben sucht, bejaht, anstrebt und verwirklichen will. Dem es zunächst um diese Werte geht und erst dann um Politik und Technik und Ökonomie; oder umgekehrt: der die vordringlichen Forderungen des Sozialen und Technischen und Politischen als Stufen ansieht zum Aufstieg in ein Leben des stillen und freien Geistes. Dieser neue Mensch einer abendländischen Kultur wäre ein Mensch der schönen Mitte: weil er sich an keine der beiden Forderungen ganz und einseitig verliert, nicht an den Geist und nicht an die Materie. Um ihn noch deutlicher zu kennzeichnen, dürfen wir mit einem wehmütigen Stolz sagen:

das wäre der österreichische Mensch, von dem man früher so viel gesprochen hat, und den wir heute, nach der grauenvollen Überrumpelung durch einen Ungeist, neu entdecken und neu verwirklichen müssen.

Aber das ist wohl die schwerste Aufgabe einer humanen und edlen Lebensgestaltung, denn wir müssen im Laufe der menschlichen Geistesgeschichte mit einem geheimnisvollen Grauen feststellen, daß da in den Tiefen des Seelischen eine diabolische Macht am Werk ist, die den Menschen immer wieder in die Einseitigkeit entweder des Materiellen und Fleischlichen oder des unmenschlich Geistigen abweichen läßt. Piaton hat das schon geahnt, als er im Phaidros die unsterblichen Bilder von der gebrochenen Seelenschwinge und dem zum Abgrund ziehenden Pferdegespann des Geistes prägte.

Hier aber setzt nun wieder die Theologie ein, um uns dieses Geheimnis aus dem Wort der Offenbarung zu deuten; hier setzt die ausgeglichene, wahrhaft gottmenschliche Pädagogik der abendländischen Kirche ein, mit ihrer tausendjährigen Erfahrung, um uns den Weg der schönen Mitte zu weisen. Die Theologie hat seit den Urzeiten die beiden Grundwahrheiten festgehalten, ohne die es keine wahre Menschenbildung geben kann und deren Leugnung, nach der einen oder der anderen Richtung hin, eine Katastrophe des echten Humanismus zeitigt: die Wahrheit vom Fall des Menschengeschlechts in der Ursünde, und die Wahrheit vom Aufstieg des Menschengeschlechts zu den Höhen der gnadenvollen Schau Gottes. Sie allein kann uns zeigen, daß der Mensch niemals nur ein natürlich edles, nach rein eigenen Gesetzen schön wachsendes Geschöpf ist; aber auch, daß der Mensch trotz aller Dämonien, die in ihm ruhen und aus ihm immer wieder herausbrechen — und wir haben diese wahre Teufelei des rassischen Herrenmenschen miterlebt —, dennoch ewig berufen bleibt zur Gnade und zur Teilnahme an Gottes eigener Natur. Die katholische Theologie stand immer in der schönen Mitte zwischen dem naturverachtenden Mani und dem naturseligen Pelagrus, zwischen der unmenschlichen Strenge des Calvin und dem bloß menschlichen Rousseau. Sie lehrt uns, die gotterschaffene Welt des Guten und Schönen liebend zu umarmen, aber sie lehrt zugleich, von der irdischen Welt jenen Abstand zu gewinnen, ohne den es keine Kultur geben kann. Die Kirche ist die Mutter aller Kunst, aber sie ist auch die Mutter der weltflüchtigen Mönche. Sie allein ist der wundervoll ausgeglichene Inbegriff von Ja und Nein zu allem Geschaffenen. Ihre Päpste können griechische Statuen sammeln und ihre Missionäre können in fernen Dschungeln ihr Blut vergießen. Aus der heroischen Armut ihrer Mönche wuchsen die Kathedralen empor, und in ihren schlichten Dorfkirchen betet man mit den adligen Worten des Römers. .

Und wo liegt dafür der tiefste Grund? Mit dieser Frage stoßen wir vor zum erhabensten Geheimnis der heiligen Theologie. Und die letzte Antwort, die hier möglich ist, wurzelt in den Tiefen der dreifaltigen Gottheit selber. Das Menschenjdeal der Theologie ist darum von einer so unerhörten Vielfalt und Kraft, weil die Kirche Gott unter den Menschen fand und weil sie den Menschen in Gott hinein erheben kann.

Der tragende Grund ihres Humanismus ist die Wahrheit: ein Mensch ist Gott. Ein echter, blutlebendiger Mensch unserer Geschichte, ein Bruder aus unserem Fleisch, ist ewig Gott. Und von da an kann es nur noch so sein: also ist der Mensch, die Menschenfamilie, das Geschlecht Adams, ein vergöttlichtes Geschlecht. Und die gesamte Menschengeschichte ist nur die Vorbereitung oder die Ausführung dieses Eingehens des Menschen in die Vereinigung mit Gott in Christus — oder die Vorbereitung und die Ausführung des Abfalls freier Menschengeister von dieser Berufung. Darin gipfelt das Ideal eines christlichen Humanismus. Das ist die leuchtende Geschichtstheologie aus der Civitas Dei des Augustinus, und in diese Wahrheit hineingeborgen sind alle Ahnungen, die seit Piaton durch die Menschengeister gehen. Der abendländische Mensch der schönen Mitte enthüllt sich im Lichte der Theologie als der Mensch zwischen Himmel und Hölle. Und das Grundgeheimnis der Theologie, das Mysterium von der Menschwerdung Gottes, ist zugleich Fall oder Auferstehung der Völker.

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