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Abgeordnete fragen, wir hören

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Im Parlamentarismus unserer Zeit verbinden sich zwei historische Entwicklungen zu einer neuen, nicht ganz widerspruchslosen Einheit: nämlich die englische Tradition des souveränen Parlaments, das zur Repräsentation des Volkes berufen ist, mit den von Rousseau maßgeblich beeinflußten Ideen der Französischen Revolution, wonach das Volk sich selbst regieren könne, wenn sein Parlament die Aufgabe erfüllt, eine „Volksvertretung” zu sein, und nicht den Anspruch erhebt, das Volk zu repräsentieren.

Während für die aus der Französischen Revolution entspringende historische Wurzel des modernen Parlamentarismus schon der Name „Volk s- vertretung “deutlich macht, was darunter zu verstehen ist, muß der Ausdruck „Repräsentation” wohl noch näher erklärt werden. Im staatsrechtlichen Sinn versteht man unter Repräsentation die Ausübung von Herrschaftsfunktionen im Namen des Volkes durch Organe des Staates, die ihre Autorität vom Volk ableiten und mit dem Anspruch legitimieren, dem Gesamtinteresse des Volkes zu diene , ohne jedoch bei ihren einzelnen Entscheidungen an bestimmte Aufträge gebunden zu sein. Kennzeichnend für diese Auffassung sind die Worte des berühmten englischen Staatsmannes Charles Fox (1749 bis 1806):

„Ich nehme auf die Stellung des Volkes nicht die mindeste Rücksicht; unsere Pflicht ist es, zu tun, was richtig ist, ohne in Rechnung zu stellen, ob es allgemein gefällt; ihre Angelegenheit ist es, uns zu wählen-, unsere Aufgabe ist es, verfassungsmäßig zu handeln und die Unabhängigkeit des Parlaments aufrechtzuerhalten.”

Die österreichische Synthese

Auch das österreichische Parlament ist aus einem Verschmelzungsprozeß der Ideale des ursprünglich eher antidemokratischen Repräsentationsorgans Englands und der antirepräsentativen demokratischen Ideologie Frankreichs hervorgegangen. Diese Zwiespältigkeit läßt sich oft bis in geringfügige Einzelheiten verfolgen. So mag es nicht uninteressant sein, unter diesem Blickwinkel auch die Gestaltung des Interpellationsrechtes im österreichischen Parlament zu betrachten.

Bis zu der am 1. September in Kraft gesetzten Reform der Geschäftsordnung des Nationalrates gab es im österreichischen Parlament lediglich die Einrichtung der „schriftlichen Anfrage”. Fünf Mitglieder des Nationalrates haben das Recht, an die Mitglieder der Bundesregierung schriftliche Anfragen zu richten. Die befraigten Regierungsmitglieder können schriftlich oder mündlich antworten oder die Beantwortung der Anfrage ablehnen, wobei es im wesentlichen stets üblich war, daß die Anfrage nicht mündlich, sondern schriftlich beantwortet wurde. Von den in der Geschäftsordnung vorgesehenen Möglichkeiten der sogenannten „dringlichen Anfrage” und der Besprechung von Anfragebeantwortungen wurde nur in den seltensten Fällen Gebrauch gemacht, so daß sich Anfrage und Anfragebeantwortung in schriftlicher und damit nicht sehr publiker Form vollzogen.

Diese mangelnde Publizität der parlamentarischen Interpellationen wurde in zunehmendem Maße kritisiert. Da die Anfragebeantwortungen der Regierungsmitglieder meist einige Wochen auf sich warten ließen, erschien der öffentlichen Meinung unserer schnelllebigen Zeit die Antwort meist so wenig aktuell, daß sie auch selten Eingang in die Spalten der Zeitungen fanden. Nach dem Prinzip der reinen Repräsentation hätte man freilich gegen alle diese Kritiken einwenden können, daß es beim parlamentarischen Interpellationsrecht um eine Information der Abgeordneten und nicht um eine solche der Öffentlichkeit gehe. Demnach wäre als Maßstab für die Gestaltung des Interpellationsrechtes nur das Informationsbedürfnis der Parlamentarier und nicht die Publizitätswirksamkeit beachtlich.

Eine solche Argumentation hätte vielleicht zur Zeit des liberalen Parlamentarismus Verständnis gefunden. Durch die Entwicklung zur egalitären Demokratie, gekennzeichnet durch die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes in allen Ländern,

dürfte sie wohl überholt sein. Daher hat der österreichische Nationalrat mit der Geschäftsordnungsreform des heurigen Jahres neben die Institution der schriftlichen Interpellation nunmehr auch die Einrichtung der mündlichen Fragestunde gestellt und sich dabei vor allem dem Vorbild des britischen Unterhauses und des deutschen Bundestages angeschlossen.

Die Sitzung beginnt mit Fragen

Seit 1. September 1961 kann jeder Abgeordnete in den Sitzungen des Nationalrates kurze, mündliche Anfragen an die Mitglieder der Bundesregierung richten. Diese Anfragen sind dem Präsidenten des Nationalrates spätestens am vierten Tage vor- der Sitzung, in der die Frage aufgerufen werden soll, zu überreichen. Jede Sitzung des Nationalrates beginnt im allgemeinen mit einer Fragestunde. Das befragte Mitglied der Bundesregierung ist verpflichtet, die Anfragen mündlich in der gleichen Sitzung, in der sie aufgerufen werden, zu beantworten oder die Gründe für die Ablehnung der Beantwortung bekanntzugeben.

Diese Neueinführung der parlamentarischen Fragestunde im Nationalrat soll das schon bisher bestandene schriftliche Interpellationsrecht zweifellos ergänzen, aber nicht verdrängen. Das wird sich schon aus dem optischen und akustischen Eindruck ergeben, auf den bei den mündlichen Anfragen nun einmal Rücksicht zu nehmen ist. Bedeutsame politische Probleme, die eine längere Erklärung eines Regierungsmitgliedes erfordern, oder Anfragen, die nur mit längeren Statistiken zu beantworten sind, gehören wohl nach wie vor zu den Gegenständen der schriftlichen Interpellation.

Nach englischer Auffassung dient die parlamentarische Fragestunde vor allem dazu, konkrete Vorkommnisse an die Öffentlichkeit zu bringen, die geeignet wären, dem Ansehen des Staates oder der demokratischen Institutionen zu schaden. Sie hat also vor allem die Aufgabe einer Kontrolle des Staatsapparates und soll dem Unbehagen entgegenwirken, das da und dort aus dem Funktionieren beziehungsweise Nichtfunktionieren staatlicher Einrichtungen entspringt.

Die parlamentarische Fragestunde stellt sowohl an die Abgeordneten als auch an die Regierungsmitglieder zusätzliche Anforderungen. Sicherlich sind diejenigen Mitglieder der Bundesregierung, die über Schlagfertigkeit und rasche Formulierungsgabe verfügen, gegenüber ihren vielleicht weniger publikumswirksamen Kollegen im Vorteil. Anderseits können sich Abgeordnete gerade dadurch bewähren, daß sie durch Zusatzfragen auf eine klare Beantwortung des Fragekerns dringen und den Sachverhalt nicht hinter rhetorischen Wendungen im dunkeln belassen. Denn die parlamentarische Fragestunde dient ebensowohl der Unterrichtung der öffentlichen Meinung wie der Information der Regierungsmitglieder über alles das, was den Staatsbürgern gegebenenfalls mißfällt.

In einer 1951 in Cambridge er schienenen Untersuchung heißt es:

„Eine Regierung muß ständig über ihre eigenen Schultern sehen, um festzustellen, ob ihr noch gefolgt wird. Wenn dies nicht der Fall ist, muß sie ihren Kurs ändern … Das Parlament ist die Plattform, die

Zeitungen sind das Mikrophon und das Volk bildet die Zuhörerschaft.”

Zweifellos gilt dies auch für die charakteristischeste Einrichtung des englischen Parlaments — die Fragestunde.

Ernst Fraenkel, Professor an der Freien Universität Berlin und Abteilungsleiter an der deutschen Hochschule für Politik, schreibt hierzu treffend:

„Eines der Geheimnisse des modernen englischen Regierungssystems ist darin zu erblicken, daß die Diskussionen im englischen Parlament ihrer Wirkung nach darauf abzielen, Reden zum Fenster hinaus zu sein und ihrer Form nach gerade das Gegenteil von Reden zum Fenster hinaus darstellen … Das englische Parlament erfüllt eine Doppelfunktion: Es dient gleichzeitig als Sendestation für die Führer von Regierung und Opposition und als Empfangsstation für die öffentliche Meinung.., Mit Hilfe der Parlamentsdiskussion gibt die öffentliche Meinung der Regierung ihre Wünsche und die Regierung der öffentlichen Meinung ihre Politik bekannt. Das englische Parlament ist, gerade weil es eine moralische Anstalt darstellt, eine politische Macht!”

Das österreichische Parlament, dessen Tradition längst nicht so weit zurückreicht wie die des englischen, hat durch die Geschäftsordnungsreform des heurigen Sommers einen Schritt getan, der seiner Stellung im demokratisch organisierten Staat nur förderlich sein kann. Den Parlamentariern, die diese Reform allen kleinlichen Bedenken und allen Widerständen zum Trotz durchgesetzt haben, gebührt aufrichtiger Dank. Nicht zuletzt dank dieser Reform befindet sich der österreichische Parlamentarismus in einer Entwicklung, die ihn zum unentbehrlichen Bindeglied zwischen Regierenden und Regierten werden läßt. Diese Funktion des Bindegliedes erfordert einerseits die zum Regieren notwendige Unabhängigkeit und Autorität, anderseits aber die für das Bewußtsein des Volkes, in einer Demokratie zu leben, notwendigen Garantien der Bildung und Berücksichtigung einer öffentlichen Meinung. So gesehen vermag eben nur das Parlament eine „Regie- xung nach dem Willen des Volkes” zu garantieren, wobei weder das Regieren noch der Volkswille zu kurz kommen.

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