6767130-1968_40_01.jpg
Digital In Arbeit

Abrüstung der Abrüstung

Werbung
Werbung
Werbung

Die Nervosität der europäischen Nationen nach der. russischen Okkupation der Moldau- und Donaurepublik verebbt nicht, sondern steigt, so scheint es, in geradezu beängstigendem Ausmaß.

Militärs drängen auf neue strategische Konzepte, Publizisten und Politiker greifen die schon längst abgegriffene Jalta-Formel auf, um in ihr des Rätsels Lösung für Ohnmächtigkeit zu finden. Die Wähler suchen Stütze im „Establishment“, das zumindest relative Sicherheit gewährt, wie Schwedens Septemberwahlen zeigten.

Die Tatsache, daß eine halbe Million Sowjetsoldaten Deutschland und damit die Südflanke der NATO bedrohen, sollte allerdings allein nicht so schwerwiegend sein. Denn die NATO konnte ja erkennen, daß die Sowjets praktisch in der Lage sind, in Stunden unter Ausschaltung des westlichen Warnsystems jeden Be

reitstellungsraum für einen militäri- schen Schlag zu besetzen. Die geradezu sensationelle Mobilität und Einsatzlähdgkeit dürfte die Sowjets auch befähigen, starke Luftlandeoperationen aus der Tiefe ihres Raumes jederzeit durchzuführen.

So gesehen scheint es ziemlich gleichgültig, ob die Russen jetzt auch entlang der tschechisch-deutschen Grenze stehen oder quasi einen Cordon sanitaire, den man jederzeit besetzen kann, in der CSSR besitzen.

Viel schwerwiegender scheint der politische Umstand, daß die Sowjets in jeder Form eine Korrektur des Status quo in Mitteleuropa zu verhindern bereit sind. Das beweist nicht allein ihre Haltung gegenüber einer — in ihren Augen — verdünnten kommunistischen CSSR oder gegenüber Berlin, sondern auch die Drohungen mit den Feindstaatklau- seln der UNO gegenüber der Bundesrepublik.

Westeuropa allerdings war und ist in den letzten Jahren von der politischen These ausgegangen, daß man langsam den Eisernen Vorhang abbauen und zwischen den Giganten diesseits und jenseits der Trennlinie der Einflußsphäre Politik machen könne. Diese Politik verfolgte de Gaulle am konsequentesten — und eine Weile schien es, als ob die Sowjets den Übungen zur Nackensteifung der Satelliten durch den General ein gewisses Verständnis entgegenbringen würden. Aber alle Träume des „Großen Europa“ vom Atlantik bis zum Ural — oder zumindest bis nach Brest sind ja ein latenter Versuch, die Einflußsphären zu zerstören und Jalta zu umgehen.

Das Spiel mit dem „großeuropäischen“ Feuer ist daher — so betrüblich das scheinen mag — ein Spiel mit der Konfrontation.

Daß aber in' dieser von relativer Ruhe gezeichneten Zone Mittel-

europas bis zum 21. August 1968 kein heißer Konflikt ausbrach, verdankt Europa dem atomaren Patt der Verhandler von Jalta (Roosevelt-Stalin), Camp David (Eisenhower-Chruschtschow), Wien (Kennedy-Chruschtschow) und von Glassboro (Johnson-Kossygin).

Die atomare Komplicenschaft ist allerdings heute in Gefahr, nach Prag zerbrochen zu werden. Die USA sind jetzt geneigter, ihren Nachdruck auf Unterzeichnung des Atomsperrvertrages durch die Westeuropäer abzuschwächen. Und Nixon

— sollte er Präsident werden — will sich den Atomsperrvertrag sehr kritisch ansehen, wie er kürzlich ankündigte. Die europäischen „Habenichtse“ bangen ernster denn je um ihre Sicherheit. Deutschland schickte aufgeregt Sonderbotschafter Birren- bach nach Washington, um eine Ver- teidigungsgaraptie zu erhalten. Und hat sie von Johnson auch in der Form bekommen, daß die Deutschen selbst auch einen D-Mark-Preis für ihre Sicherheit zu zahlen hätten.

Das stärkt die „Falken“ in Bonn. Denn wenn eine verstärkte Rüstung für die NATO gefordert wird, müsse man die wichtigsten Waffen besitzen

— und das sind die atomaren. CSU- Chef Strauss fordert vehementer denn je die Nächtunterzeichnung des Sperrvertrages — und auch Kiesin- ger sieht sich einer innerparteilichen Fronde seiner Parteifreunde ausgesetzt.

Frankreich war schon immer entschiedener Gegner des Atomwaffensperrvertrages gewesen und stellt auch heute seine Alternativhaltung deutlich zur Schau. So wird die Abrüstung vorläufig selbst abgerüstet.

Angesichts der Unsicherheit, in die die europäische Politik geraten ist, schein ! zwei Zukunftsvardanten möglich:

• Beschränkung der Anstrengungen für eine stärkere politische und auch militärische Zusammenarbeit auf den Kreis der westeuropäischen Staaten, Anerkennung der Einflußsphären, der Teilung Deutschlands, Verzicht auf eine baldige .Herauslösung der Osteuropäer . aus. Moskaus totaler Abhängigkeit und Stärkung der NATQ jiei Anerkennung des Primates der USA attf atomarem Gebiet,

1 oder Anstrengungen zur eigenen atomaren Verteidigung, Verweigerung der Unterstellung, zum atomaren Habenichts im Schatten sowjetischer Panzerrohre zu werden, Hoffnung auf einen Wechsel im Kurs des Kremls und Fortsetzung der Bemühungen, den Eisernen Vorhang zu überwinden und auf Osteuropa diesseits der Grenze von Brest nicht zu verzichten.

Die Entscheidung für einen der beiden Wege reift heran. Europa hat nicht mehr viel Atem, im Wettlauf mit den Giganten militärisch und wirtschaftlich durchzuhalten. Die erste Variante ist zwar realpolitisch naheliegender, schneller realisierbar und beruhigender — aber logischer, wenn auch erheblich riskanter scheint der zweite Weg; der überdies den Vorzug hat, dem moralischen Gewissen von 1000 Jahren Europa zu folgen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung