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Abschied von der Christlichsozialen Partei

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Als Österreich den Sturm bestand. Zum Erscheinen des zweiten Memoirenbandes von Dr. Friedrich Funder.

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Als Österreich den Sturm bestand. Zum Erscheinen des zweiten Memoirenbandes von Dr. Friedrich Funder.

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Tief hinein in die Problematik der angekündigten, auf anderen Fundamenten als bisher stehenden Verfassungsreform stieß die Programmverkündung, die Dollfuß am 11. September 1933 bei dem ersten feierlichen Appell der Vaterländischen Front vollzog. Der Stil der Veranstaltung paßte sich den festlich gehobenen Formen des in majestätischer Schönheit vorausgegangenen Katholikentages an, der als 250-Jahr-Feier für die Befreiung Wiens von der Türkenbelagerung gestaltet worden war. Das feurige vaterländische Bekenntnis des Kanzlers weckte in den auf dem Trabrennplatz und seinen Tribünen versammelten Massen Stürme der Begeisterung. Der politische Inhalt dieses Programms blieb daneben zunächst kaum beachte«: und nicht in seinem ganzen Gewicht ermessen.

Als die „Furche“ zu Weihnachten 1951 ihren Lesern einen Vorabdruck aus dem Erinnerungsbuch ihres Gründers und Herausgebers Dr. Friedrich Funder, I. Band: „Vom Gestern ins Heute“, bot, war ein Einwand des Verfassers selbst zu überwinden: die Scheu, im eigenen Blatte das Wort über seine „privaten Dinge“ zu erhalten. Diese Bedenken stehen heute, da sich die „Furche“ anschickt, Teile aus dem zweiten, in wenigen Wochen im Verlag Herold erscheinenden Memoirenwerk, „Als Oesterreich den Sturm bestand“ 1931—1945, zu veröffentlichen, weitgehend zurück. War doch ein jeder Schritt, den der heute 85jährige, der älteste noch heute tätige österreichische Publizist, in diesen schweren Jahren Oesterreichs tat, kein „privates Ding“, sondern in jedem Augenblick von weittragender Verantwortung bestimmt und vom Donnerrollen geschichtlicher Ereignisse begleitet. So folgen wir in den Kapiteln des neuen Buches, aus dem wir besonders bezeichnende Teile heute und in den folgenden Wochen zum Abdruck bringen, nicht nur dem persönlichen Wirken, Zugreifen und Am-Rande-stehen-Müssen eines aufrechten Mannes und Kämpfers, sondern dem österreichischen Schicksal schlechthin, das in diesen Jahren vom Spiel der Weltkräfte in härteste Proben der Bewährung gestürzt wurde, um in unseren Tagen wieder zu neuen, friedlicheren Ufern zu streben. Die Redaktion der „Furche“

Als die „Furche“ zu Weihnachten 1951 ihren Lesern einen Vorabdruck aus dem Erinnerungsbuch ihres Gründers und Herausgebers Dr. Friedrich Funder, I. Band: „Vom Gestern ins Heute“, bot, war ein Einwand des Verfassers selbst zu überwinden: die Scheu, im eigenen Blatte das Wort über seine „privaten Dinge“ zu erhalten. Diese Bedenken stehen heute, da sich die „Furche“ anschickt, Teile aus dem zweiten, in wenigen Wochen im Verlag Herold erscheinenden Memoirenwerk, „Als Oesterreich den Sturm bestand“ 1931—1945, zu veröffentlichen, weitgehend zurück. War doch ein jeder Schritt, den der heute 85jährige, der älteste noch heute tätige österreichische Publizist, in diesen schweren Jahren Oesterreichs tat, kein „privates Ding“, sondern in jedem Augenblick von weittragender Verantwortung bestimmt und vom Donnerrollen geschichtlicher Ereignisse begleitet. So folgen wir in den Kapiteln des neuen Buches, aus dem wir besonders bezeichnende Teile heute und in den folgenden Wochen zum Abdruck bringen, nicht nur dem persönlichen Wirken, Zugreifen und Am-Rande-stehen-Müssen eines aufrechten Mannes und Kämpfers, sondern dem österreichischen Schicksal schlechthin, das in diesen Jahren vom Spiel der Weltkräfte in härteste Proben der Bewährung gestürzt wurde, um in unseren Tagen wieder zu neuen, friedlicheren Ufern zu streben. Die Redaktion der „Furche“

Aus den Grundsatzerklärungen des Kanzlers sprangen die Sätze heraus: „Die Zeit der Parteienherrschaft ist vorüber! Wir wollen den sozialen, christlichen, deutschen Staat Oesterreich auf ständischer Grundlage mit starker autoritärer Führung." Ständischer Neuaufbau, die Organisation der Berufsstände sei die Aufgabe der Regierung in den nächsten Monaten, der Vaterländischen Front aber sei es beschieden, nicht etwa nur die Vereinigung von zwei oder drei Parteien zu sein, sondern „zur Ueberwindung des Parteienstaates die Vereinigung aller zu Oesterreich sich Bekennenden“.

Die Programmrede des Kanzlers war der Versuch, ein abstraktes Gedankengebäude der Oeffentlichkeit nahezubringen; die Umrisse waren noch verschwommen und konnten auch unmöglich anders sein; zwischen dem Vorhaben und der Verwirklichung mußten, auch dem in der Staatskunde Unerfahrenen erkennbar, nicht leicht zu meisternde Hindernisse liegen.

Im nüchternen Alltag begannen die Fragen und die Zweifel auch unter dem engeren Kreise um den Kanzler. „Vaterländische Front“? Sie war noch keine konkrete Vorstellung. Der hochtönenden Parolen hatte es in dieser Zeit schon genug gegeben. Von der Christlichsozialen Partei, der bisher führenden Staatspartei, die auch im heißesten Gedränge zum Staate gestanden hatte und Männer hatte, wie Kunschak, Vaugoin, Schmitz. Robert Krasser — Menschen, auf die man jederzeit bauen konnte —, von dieser Partei war keine Rede gewesen. Hier begegnete die Rede des Kanzlers dem Einspruch.

Der Kanzler wußte um die christlichsoziale Bewegung, er stammte aus ihrer Mitte, aber die von ihm verlangte Umstellung des Denkens warf zuviel Ueberliefertes, Gewohntes und Geliebtes um, als daß sie in ihrer Tragweite rasch verstanden worden wäre.

Zehn Tage nach der Kanzlererklärung erfolgte die Umbildung der Regierung Dollfuß, ein Austausch der Minister, die einer parteipolitischen Gruppe angehörten, gegen Nichtparlamentarier. Zugleich mit dem Rücktritt der dem Landbund und dem Heimatschutz zugehörigen bisherigen Kabinettmitglieder war auch Heeresminister Vaugoin verabschiedet worden. Erst vor wenigen Monaten war er auf dem Salzburger Parteitag der Christlichsozialen wieder als ihr Bundesparteiöbmaftn auf den Schild erhöben worden, nicht ganz dem Wunsche Dollfuß- entsprechend, der für seine Pläne es als richtiger empfunden hätte, wäre ihm selbst die Bundesparteiobmannschaft der Christlichsozialen übertragen worden. Doch Vaugoin war der Mann, der das Land von der Schöpfung aus der Umsturzzeit, der Volkswehr unerquicklichen Angedenkens, befreit und mit General Jansa an seiner Seite das österreichische Bundesheer eingerichtet hatte. Unter tosenden Zustimmungskundgebungen war Vaugoin in Salzburg aufs neue mit dem höchsten Amte der Partei bekleidet worden. Nun aber sollte er nach zwölfjähriger Führung des Heeresministeriums — der bisher längsten Dienstzeit eines Ministers in der österreichischen Republik — durch seine Loslösung von diesem Amte Zeugnis ablegen für die Ueberwindung des Parteienstaates, indes der Heimwehrführer Major Fey, der bisherige Minister für Sicherheitswesen, zwar ohne dieses Ressort, doch in der bedeutenden Stellung als Vizekanzler dem neuen Kabinett angehören konnte. Der Kanzler war bestrebt gewesen, dem Kräftespiel innerhalb der Regierung durch den geschaffenen Wechsel ein Ende zu setzen, indem er sich sowohl die Wehrmacht als auch die Führung des Sicherheitsdienstes vorbehielt. Loyal entsprach Vaugoin dem Willen des Kanzlers; leicht fiel es ihm nicht.

Noch mehr als die Veränderungen in der Regierung beschäftigte die intime politische Diskussion das Wort von dem „Ende des Parteienstaates". Konnte es wahrhaftig auch der Christlichsozialen Partei gelten, der bisher in allen guten und bösen Zeiten zuverlässigsten der Regierung zur Verfügung stehenden vaterländischen Kraft? Der christlichsoziale Pressedienst dementierte die umgehenden Gerüchte, beschwichtigte. Aber er hatte es nicht leicht, sonst hätte er nicht Woche für Woche sich bemüht, zu versichern, daß „niemand daran denke“, die Christlichsoziale Partei auszuschal-ten. Selbstverständlich gehe es nicht tum ihr Verschwinden, sondern um das „Verschwinden der überwuchernden Parteieinflüsse im allgemeinen“, den Christlichsozialen falle jetzt die besonders ehrende Aufgabe zu, ihrer wirklichen Natur entsprechend „Kerntruppe der Vaterländischen Front“ zu sein. Das war eine ehrenvolle Interpretation. „Kerntruppe“ aber sein, heißt „beisammenbleiben“. Doch ging ein Knistern durch das Gerüst der Partei eines Lueger und Liechtenstein, Jodok Fink und Ignaz Seipel. Am gleichen Tage, am 21. September, da das Ausscheiden Karl Vaugoins aus der Regierung für die Uebernahme der Präsidentschaft in der Verwaltungskommission der Bundesbahnen verlautbart wurde, erhielten .die Vertrauensmänner die Botschaft: „Es ist selbstverständlich, daß Vaugoin auch weiterhin Parteiobmann bleibt.“ Was an diesem 21. September gegolten hatte, galt jedoch am 1. November nicht mehr, denn an diesem Tage suchte Vaugoin auch als Bundesparteiobmann um Urlaub an, zwar, wie es hieß, nur für die Dauer seines Amtes als Präsident in der Verwaltungskommission der Bundesbahnen. Doch wurde die Möglichkeit, von diesem Amt an die Spitzenstellung seiner Partei zurückzukehren, rasch überholt, denn am 9. November veranlaßte der Kanzler, die Bestellung eines „geschäftsführenden Bundesparteiobmannes“ seitens der Bundesparteileitung vorzubereiten; der Name wurde noch nicht genannt.

Nach Vaugoin schied auch sein Stellvertreter Leopold Kunschak aus der Bundesparteileitung mit der Erklärung, sein Entschluß sei unwiderruflich. An Kunschaks Stelle trat in der Bundesparteileitung noch durch Wahl in der Form einer Kooptierung der Sozialminister des Ka- binettes Richard Schmitz, in der Wiener Parteileitung der Freund und Vertraute Kunschaks, Professor Robert Krasser, der Vormann der organisierten katholischen Akademikerschaft; er war ihr weltanschaulicher und politischer Dogmatiker; sein Wort hatte Gewicht, neben ihm und hinter ihm standen die bedeutendsten Persönlichkeiten der Wiener Christlichsozialen Partei. Am 2. Oktober hielt Robert Krasser, der Obmann der Wiener Partei, in einer Konferenz seiner Mitarbeiter eine scharf profilierte Rede, die sich mit verschiedenen Deutungen des Programms des Kanzlers befaßte und einige Interpretationen richtigstellte. Im Zentrum seiner parteigeschichtlich interessanten Auseinandersetzung standen die Sätze:

„Wir sind für die Beseitigung der nicht im Volks- und Staatsinteresse gelegenen omnipotenten Parteiherrschaften. Wir lehnen aber auch mit aller Entschiedenheit den Einparteist'aat ab. Hier nahm der Redner gegen die Totalitätsbestrebungen Stellung, die auch in manchen Quartieren der Heimwehr nisteten. Denn auch das Totalitätsprinzip des Einparteistaates, bei dem die Eingriffsund Leistungsrechte der zentralistischen Autorität grundsätzlich unbegrenzt sind, wäre mit der berufsständischen Ordnung schlechthin unvereinbar. Die Beseitigung des Parteienstaates bedeutet auch nicht ohne weiteres das Ende der politischen Parteien überhaupt. Gewiß werden in Zukunft die politischen Parteien nicht mehr die einzigen, den Staatswillen bestimmenden Organe sein, sie werden einen nicht unerheblichen Teil ihrer bisherigen Funktionen und Aufgaben an die auf dem Prinzip der Selbstverwaltung aufgebauten Berufsstände abzugeben haben. Sie werden aber einen gerechten Ausgleich zwischen den Notwendigkeiten einer starken Regierung und einer lebendigen Anteilnahme des ganzen Volkes am Staate als Ge- sinnungs- und Erziehungsgemeinschaften in ganz wichtiger Funktion zu vollziehen haben. Unsere Christlichsoziale Partei hat die verantwortungsvolle Pflicht, dafür zu sorgen, daß der Aufbau der ständischen Formen und ständischen Grundlagen, wie sie die Enzyklika verkündet, wirklich in christlichem Geiste durchgeführt werde. Sie wird unserem Bundeskanzler bei diesem Bemühen die verläßlichste Stütze sein müssen. Sie wird, hineingestellt in die große Vaterländische Front, in treuer Gefolgschaft zu Doktor Dollfuß Weiterarbeiten und nicht ruhen, bis das Werk glücklich vollendet ist“ Die Rede des Obmannes der Christlichsozialen Partei Wiens bedeutete eine ehrliche Warnung vor Abweichungen zu Absolutismus und Diktatur, die in manchen Gegenden der Heimwehr sich bemerkbar machten.

In einer Entschließung billigte der Wiener Parteirat einstimmig die Lageerklärung seines Obmannes.

Wenige Tage später erging denn auch an die österreichischen Vertrauensmänner eine Aussendung, die, aus der Mitte der Partei stammend, deren Bestand mit einem offenen Beharrungswillen verteidigte:

„Die Christlichsoziale Partei vertritt die christliche Weltanschauung, sie ist staatstreu, sie ist österreichisch. Wie immer auch der künftige Staat aufgebaut, wie immer auch seine öffentlichen Körperschaften ausschauen werden, ob ständisch, ob politisch, ob wirtschaftlich — die christliche Weltanschauung wird und muß in allen diesen Körperschaften irgendwie zum Ausdruck kommen. Diese Weltanschauung ist aber heute nur von der Christlichsozialen Partei vertreten. Sie ist daher in Zukunft nicht nur nicht überflüssig, sie ist im Gegenteil zu neuen gewaltigen Aufgaben berufen. Niemand denkt daran, die Christlichsoziale Partei aufzulösen, die Organisation der Christlichsozialen Partei verschwinden zu machen." Am allerwenigsten der Bundeskanzler selbst. Die Christlichsoziale Partei wird selbstverständlich weiterbestehen.“ „Informationsdienst der christlichsozialen Nachrichtenzentrale", 6. Oktober 1933.

Das war sehr tapfer gesagt und war eine nochmalige Mahnung, ausgesprochen von besorgten Anhängern. Aber der Kanzler hatte, wie auch von seinen Kritikern zugegeben werden mußte, die Freiheit der Entscheidung zu dieser Zeit nicht mehr in der eigenen Hand. Ein Gefangener seiner Lage, angewiesen auf das Verbleiben der kleinen Heimwehrgruppe des Parlaments, die in der öffentlichen Meinung mehr zu sagen hatte als mit ihren Abgeordnetenstimmen. Daß die Christlichsozialen ihn in der Not verlassen würden, fürchtete Dr. Dollfuß nicht; daß ein Abzug der Heimwehr von seiner Seite sein großes reformatorisches Unternehmen stürzen würde, nahm er als sicher an. Solange er einer Entscheidung ausweichen konnte, manövrierte er. Aber diesmal gab es kein Ausweichen mehr. Gegen Mitte November entschloß er sich, nach allen Seiten hin volle Klarheit zu schaffen.

Für den 16. November wurden der Vorstand der Christlichsozialen Partei und die Vertreter der Landesparteileitungen vom Klubobmann Kollmann in den Salon des Parlamentspräsidiums zu einer Sitzung geladen, auf deren Tagesordnung die durch die sogenannte Beurlaubung Vaugoins fällige Neubesetzung der Bundesparteiobmannschaft beziehungsweise die vom Kanzler gewünschte Bestellung eines geschäftsführenden Bundesparteiobmannes stand. In einer Vorbesprechung wurden die Mitglieder des engeren Vorstandes unterrichtet, daß der Bundeskanzler im Wege der Ernennung den neuen Bundesparteiobmann berufen sehen möchte. Hier begegnete Dr. Dollfuß bestimmtem Widerspruch. Man sei bereit, einen Mann zu akzeptieren, den Dr. Dollfuß vorschlage, aber man verlange, daß die Berufung durch einen Wahlakt geschehe. Als der wünschenswerte Kandidat wurde Robert Krasser genannt. Aber der Kanzler gab zur Antwort:

„Ihr wünscht einen Reformator, ich aber brauche einen L, i q U Ld a t ot !“„ n..

Die Vormittagssitzung wurde unterbrochen, ein Entscheid war noch nicht gefallen.

Draußen war ein trüber Tag. Jeder von den Teilnehmern, die am Nachmittag zu der Fortsetzung der Sitzung sich einfanden, schien etwas von dem unfreundlichen Grau des Novembertages hereingebracht zu haben. Die Erwartung eines bedeutsamen Ereignisses lag in dem Raum. Während Bundesminister Dr. Buresch über finanzwirtschaftliche Angelegenheiten referierte, erschien der Bundeskanzler. Er nahm sogleich nach der Begrüßung das Wort.

Dollfuß ging sofort in eine Darstellung der innen- und außenpolitischen Lage ein und zeigte daran die Aufgabe, zu deren Lösung jetzt der vaterländische Mensch auf gerufen sei. Was er, der Bundeskanzler, vor einem halben Jahre erst nur von ferne und unbestimmt in einem Zustand hoffnungloser Zerrüttung der staatlichen Zustände als harte Pflicht erkannt habe, das habe sich seither zur festen hoffnungsvollen Zielsetzung verwandelt: Ein neues Oesterreich erstehel Jetzt gelte es, das schon Gewonnene zu sichern und daran ohne Rast weiterzubauen. Nun zeigte der Kanzler, wie er die Obliegenheiten für den seelischen, sozialen und staatlichen Neubau ersehe. Ein solches Ziel zu erreichen, werde dem geschenkt sein, der die sittliche Kraft zum Verzicht, zum Opfer auch des geliebten Gutes in sich besitze. Jetzt sei die Zeit gereift, da alles eingesetzt werden müsse, um zu gewinnen, was durch ein halbes Jahrhundert das Planen und die Sehnsucht großer christlicher Denker gewesen sei: Die Neuformung der gesellschaftlichen Ordnung im berufsständischen christlichen Geiste. Ja, jetzt sei es an den Führern der Christlichsozialen, mitzuarbeiten, um das Große, Kostbare wirklich zu erwerben. „Die Stunde ist gekommen!“

Der Kanzler war während seiner Rede auffallend blaß. Er hielt die Augenlider gesenkt, als lese er von einem vor ihm liegenden unsichtbaren Blatt seine Worte ab. Er sprach leise, von einer verhaltenen Erregung erfaßt, als er fortfuhr: Nun sei'auch von den Getreuen, die bisher durch ihre Zurückhaltung und ihre stille Kleinarbeit den Beginn der neuen Gestaltung ermöglichten, das Opfer eingefordert, die alten Parteiformen zurückzustellen und sich mitformend in die neue Stellung einzugliedern — in großherzigem Verzicht auf sich, um noch Größeres für Oesterreich zu gewinnen.

Was nun kam, war ergreifend. Ich konnte den Kanzler, ihm gegenübersitzend, aus der Nähe beobachten. Mit einem fast visionären Ausdruck in den Augen aufwärts blickend, sagte der Kanzler, seine Stimme zu einem Flüstern dämpfend — es ist mir, als sähe ich ihn heute noch vor mir wie damals, jede Silbe abmessend: „Ich weiß, ich verlange viel von euch. Jeder von uns muß alles, was er kann, d’aransetzen. Es ist das Befreiungswerk, das wir für unser Volk zu vollbringen haben. Ich bin mir bewußt, daß ich mit meinem Unternehmen viel aufs Spiel setze, vielleicht auch die Existenz meiner Familie, vielleicht“ — einige Sekunden lang hielt er inne —, „vielleicht auch mein Leben. Aber es muß sein!" Ich war nicht der einzige in unserer Runde, für den die Zeugenschaft ein erschütterndes Erlebnis war.

Sah Dollfuß in dieser Stunde sein Schicksal voraus? Legte er, ein um das Ende irgendwie Wissender, die Opferschale auf den Altar des Vaterlandes? Es war nicht anders.

Nach kurzem Verweilen verließ der Kanzler die Sitzung, die der Vorsitzende unterbrach, um den Vorstandsmitgliedern Gelegenheit zu geben, sich in intimer Aussprache über das Weitere zu verständigen. Nach Wiederaufnahme der Sitzung eröffnete Kollmann als Vorsitzender den Anwesenden den bestimmten Wunsch des Bundeskanzlers, :w,;4eiiin der, Person des gewesenen Ministers-Dr. Emmerich Czermak. ein geschäftsführender Obmann zu bestellen".

Der Wunsch war nach der Lage der Dinge ein autoritatives Verlangen, an die Spitze der führenden Staatspartei einen Nichtparlamentarier zu stellen. Dr. Czermak hatte nie dem Nationalrat angehört. Seine Berufung bedeutete den sichtbaren Bruch mit der bisherigen Begriffswelt. Stets war die höchste Würde der Partei einem vom Volke gewählten Abgeordneten anvertraut gewesen. Czermak war eine sehr achtbare Persönlichkeit, aber seine Bestellung in Form einer Scheinwahl war für die meisten Anwesenden eine unliebsame Neuerung, die man, dem Appell des Kanzlers folgend, hinzunehmen hatte.

Unwillig erhob sich der niederösterreichische Abgeordnete Manhalter und verließ die Sitzung.

Dr. Czermak war bei diesen Vorgängen nicht anwesend und erfuhr von seiner Bestellung erst, als er zufällig in den Couloirs mit dem Bundesrat Sturm zusammentraf und von diesem über das Geschehene unterrichtet wurde.

Dr. Czermak näherte sich nur zögernd der im zugedachten Rolle. „Geschäftsführender Bundesparteiobmann"? Was besagte der Titel?

Dr. Czermak sah den Dingen nicht ganz auf den Grund. Soll das der Anfang vom Ende sein? Das Ende der Christlichsozialen Partei? Er war beunruhigt. In einer mehrstündigen Unterredung, zu der Dr. Dollfuß ihn in seine Privatwohnung geladen hatte, gelang es dem Kanzler, die Bedenken Czermaks zu verscheuchen. Mit großer Eindringlichkeit hatte Dollfuß seinem Gegenüber vorgehalten, er brauche an der Spitze der Christlichsozialen Partei eine absolut zuverlässige Hand, einen Mann, auf dessen Treue er sich unbedingt verlassen könne, und er appelliere an die Loyalität seines Gesprächspartners, die Geschäftsführung der Partei für den Ueber- gang zu neuer verfassungsrechtlicher Ordnung zu übernehmen. Da gab sich Dr. Czermak gefangen und nahm an. Ihm ist später in seiner Rolle nicht ganz wohl geworden. Er war ein alter Christlichsozialer, der eingeleiteten Entwicklung konnte er nicht folgen.

Kurze Zeit, nachdem Dr. Czermak sein Amt angetreten hatte, suchte Dr. Renner mit ihm Fühlung. Um die Jahreswende kam es zu einer nächtlichen Unterredung der beiden Männer. Wie Dr. Czermak seinen Freunden berichtete, erklärte ihm Dr. Renner die einverständliche Vorsorge für eine Uebergangszeit mit der erstrebten späteren Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände als das zu erreichende Ziel. Er sei berechtigt, die Bereitschaft seiner Partei zu erklären, für eine Verständigung der beiden großen Parteien für dieses Vorhaben bis zur äußersten Grenze des Entgegenkommens zu gehen. Man habe volles Verständnis für die schwierige Stellung des Bundeskanzlers.

Nach dieser Unterredung ließ Dr. Renner noch wissen, daß er mit seinen Vorschlägen bis Mitte Jänner im Wort bleibe.

Am 18. Jänner antwortete der Kanzler, erkennbar auf das Angebot Renners eingehend, vom Christlichsozialen Klub aus mit einer Rede, in der er an „alle ehrlichen Arbeiterführer“ appellierte und sie aufrief zur Verteidigung der Freiheit und Unabhängigkeit Oesterreichs.

Der schöne Akt des Kanzlers wurde jedoch durch pressepolizeiliche Maßnahmen durchkreuzt. Was war da geschehen? Am 20. Jänner hatte das Wiener sozialdemokratische Hauptorgan einen Leitartikel veröffentlicht, der die Frage aufwarf, ob es möglich sei, daß der österreichische Bundeskanzler dem zur Zeit in Wien weilenden italienischen Unterstaatssekretär Suvich sage, „wie stark das Mitgefühl aller Oesterreicher für das Schicksal der bedrängten Deutschen in Südtirol ist". Der Artikel wurde polizeilich beschlagnahmt und die „Arbeiterzeitung" unter ein- zweimonatiges Verbreitungsverbot gestellt.. Es' muß gerechterweise festgestellt werden, daß die Sprache des Artikels vorsichtig und taktvoll war. Es wäre eine gesuchte Auslegung gewesen, aus dem Artikel eine Unhöflichkeit gegenüber dem italienischen Gaste oder Unsachlichkeit herauszulesen. Ein zweiter pressepolizeilicher Zugriff traf ein paar Tage später dasselbe sozialdemokratische Organ durch die Konfiskation einer Stelle aus der Antwort an den Kanzler, die der neugeschaffene sozialdemokratische Parteirat am 28. Jänner beschlossen und in der ..Arbeiter-Zeitung" veröffentlicht hatte. Diese Antwort,. gefaßt in dem gewohnten parteiamtlichen Stil, enthielt die Erklärung, daß die sozialdemokratischen Arbeiter und Angestellten „zur Unabhängigkeit Oesterreichs stehen und bereit sind, sie mit allen Mitteln zu verteidigen. Auch jetzt in diesem Augenblicke bereit sind, an einer friedlichen und verfassungsmäßigen Entwirrung der politischen Krise mitzuwirken.“ Diese Zusage war mit verschiedenen naheliegenden politischen Voraussetzungen verknüpft. Ein Drittel der in Druck erschienenen Antwort verfiel der Zensur.

Politisch zu rechtfertigen war diese Konfiskation ebensowenig wie die vorausgegangene Beschlagnahme und die gleichzeitige Strafverfügung. Mit diesen jähen pressepolizeilichen Eingriffen konnte allerdings der Annäherung „der aus klassenkämpferischen Gründen noch abseits stehenden Kreise der Bevölkerung“, wie sie der Kanzler erstrebt hatte, nicht gedient werden. Die Frage lag nahe, ob das pressepolizeiliche Eingreifen in beiden Fällen über höheren Auftrag erfolgt sei. Seit 11. Jänner stand in der Regierung als Leiter des Sicherheitswesens wieder Major Fey. Beide Konfiskationen hatten unter den obwaltenden Umständen ausgesprochen politischen Charakter. Eine Deckung seitens des Bundeskanzleramtes für diese politischen Akte lag nicht vor. Waren sie aber einmal geschehen, so waren sie, so störend sie waren, nicht mehr zu beheben. Ob Fey die Verantwortung für das Geschehene trug, ist nicht aufgeklärt worden.

Fey war ein Mann von hohem militärischem Ruf; eine der aus seiner Initiative vollbrachten Waffentaten war 1916 die Erstürmung des Kapellenberges von San Oswaldo im Val Sugana gewesen, einer das Tal wie eine Festung beherrschenden, von den Italienern zäh verteidigten Stellung, deren Eroberung das Tal frei machte für die einsetzende österreichische Offensive. Das Maria-Theresien-Kreuz und andere Tapferkeitsauszeichnungen sowie vier Verwundungen bezeugten den Angriffsgeist dieses militärischen Führers. Er hatte davon einen Schuß — Kenner meinten: einen allzu starken Schuß — in seine Ministerschaft mitgebracht. Im September als Vizekanzler in das neugebildete Kabinett Dollfuß berufen, hatte er das zuvor durch vier Monate inngehabte Ressort des Sicherheitswesens nicht wieder erhalten. Fey trug an diesem Verluste. Doch nun hatte er seit wenigen Tagen das Sicherheitswesen wieder als Ressort Zurückerhalten, da sich im Linkslager die Zeichen einer gefährlichen Vorbereitung verschärften. Der Kanzler hatte in solcher Lage in ihm den rechten Mann gesehen, den augenscheinlich im Gange befindlichen Aufrüstungen sozialistischer Eisenfresser zu begegnen.

Klubs zusammenhängenden Entscheidungen selbständig zu treffen“, so war in der damaligen Periode des Abbaues der bisher gültigen politischen Formen die Tragweite der Ankündigung eindeutig. Die ausgebrochene Krise der Demokratie führte zu unabsehbaren Opfern.

Die Bedeutung des Geschehens wurde noch dadurch unterstrichen, daß Bundeskanzler Doktor Dollfuß, begleitet von fünf Regierungsmitgliedern, zu dieser Beschlußfassung erschienen war. Es nahmen an der Sitzung 62 National-

Damals war jeden Tag der Bürgerfrieden auf dem Spiel — gestern gewonnen, heute in Gefahr, morgen' vielleicht verloren ..

Das jähe Ende, das brutal und halb rätselhaft 1933 den österreichischen Parlamentarismus befallen hatte, riß in rascher Folge auch das politische Parteiwesen zu Boden. Am 14. Mai 1934 erreichte das Schicksal auch die Christlichsoziale Partei.

Der Personenkreis, in dem sich die von Abschiedsstimmung überschattete Feierlichkeit vollzog, war der Klub des Nationalrates, nicht die Partei, in deren Namen die Bundesparteileitung zu beschließen gehabt hätte. Aber er repräsentierte den Führerstab der Partei, und wenn er sein Präsidium, so wie es geschah, ermächtigte, „alle mit der Liquidierung des und 28 Bundesräte, vier ehemalige Nationalräte, Dr. Czermak als letzter geschäftsführender Bundesparteiobmann und ich teil. Entschuldigt hatten sich Minister Dr. Schuschnigg und die Landeshauptleute von Salzburg und Tirol, Doktor Rehrl und Dr. Stumpf.

Leopold Kunschak, ihm, der die Verkörperung gelebter christlichsozialer Parteigeschichte war, fiel die Aufgabe zu, bei diesem Treffen der christlichsozialen Volksbeauftragten im Parlament Rückschau zu halten über Wesen und Wirken des christlichsozialen Führerstabes, der jetzt nach fast einem halben Jahrhundert seines Bestandes Abschied nehmen sollte von deß Stätte, an der seine Mitglieder mit dem Einsatz ihrer Volksverbundenheit und Vaterlandsliebe grundsatztreu mitgeschaffen hatten an dem Aufstieg aus dem alten liberalen Verfassungsstaat und seinem plutokratischen Zensuswahlsystem zu dem modernen sozialen Staat des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes. Nach den 1907 auf Grund dieses Wahlrechtes zustande gekommenen Neuwahlen zogen die christlichsozialen Gewählten, 98 Mann stark, als die größte parlamentarische Gesinnungsgemeinschaft in das neue Haus ein. Sie hatten die Genug-tuung, für das Programm der christlichen Sozialreform unter den Gewählten der anderen Nationen gleichgesinnte Gruppen zu finden, bei den Südtiroler Italienern wie bei den Polen, Ukrainern und bei den Slowenen. Eine große übernationale Bundesgenossenschaft für die Erkämp- fung lebenswichtiger Reformziele kündigte sich an.Am Horizonte zeigte sich damals ein neues Oesterreich.

Es wurde die Tragik des alten Kaiserstaates und so auch der Christlichsozialen Partei, daß nach diesem ihrem Höhepunkte die innerpolitische Entwicklung um die Jahrhundertwende in die trostlose Zone heißer Sprachenkämpfe hinausgestoßen wurde. Von dieser Heimsuchung hat sich das alte Oesterreich nicht mehr erholt. Auch die Christlichsoziale Partei mußte daran mittragen.

Jedoch heute noch sind die Spuren christlichsozialer Wirksamkeit in der Gesetzgebung und in den großen Errungenschaften auf dem Gebiete der Selbstverwaltung und Verstadtlichung feststellbar, so wie auch die 43 Jahre des Bestandes des christlichsozialen Parlamentklubs Perioden umschließen, in denen christlichsozialer Gemeingeist ringsum über Parteigeist und feindliche Parteiung obsiegen und lebensgefährliche Bedrängnisse des Staates überwinden konnte.

Der am 14. Mai 1934 von Leopold Kunschak erstattete parteigeschichtliche Bericht, der ein abschließendes historisches Dokument zu sein bestimmt war, möge hier wegen seines Quellenwertes Platz finden:

„Der Christlichsoziale Klub hat das Recht und die Pflicht, vor der Oeffentlich- keit Rechenschaft abzulegen mit einer Umschau über die Zeit seines Bestandes. Seiner Tätigkeit ist 18 8 5 die Wahl Dr. Luegers in den österreichischen Reichsrat vorausgegangen. Sie begann mit seinem Bekenntnis zur Demokratie. Er hat diese Gesinnung unter Beweis gestellt, als er im Abgeordnetenhaus den Antrag auf Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes einbrachte.

In den Neuwahlen des Jahres 1891 zogen die ersten zehn Abgeordneten ins Parlament ein, die auf den Fundamenten eines christlichsozialen Programms ihren Klub begründeten†. Schon diese ersten Tage wurden ein politisches Ereignis durch die Bedeutung der Männer, die sich in ihm zusammenfanden, zuvorderst unter ihnen Dr. Karl Lueger, Dr. Albert Geßmann, Prinz Alois Liechtenstein und Dr. Josef Scheicher. Ihre Namen und ihr Werk sind in die österreichische Geschichte eingegangen.

Seine große politische Bedeutung gewann der Christlichsoziale Klub 1907 nach der Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes, bei der Reform, die zuvorderst von den Christlichsozialen erkämpft worden war. Der große Sieg wurde dadurch vervollständigt, daß sich die bisher in der .Katholischen Volkspartei' vereinigten deutschen Abgeordneten er Alpenländer dem Christlichsozialen Klub anschlossen. Als die mit 98 Mandaten ausgestattete, nunmehr größte Parteiformung des österreichischen Reichsrates stellte die Christlichsoziale Partei den ersten Präsidenten des Hauses in der Person des späteren Bürgermeisters der Stadt Wien, Dr. Richard Weiskirchner. Das Parlament hat weder vorher noch nachher einen besseren und geschäftskundigeren Präsidenten besessen. Die gewachsene Verantwortlichkeit der Partei führte sie auch zur Teilnahme an der Regierung. Der erste, der aus ihren Reihen die Ministerschaft erhielt, war Dr. Geßmann, zu dieser Zeit wohl eine der bedeutendsten und einflußreichsten Persönlichkeiten des Staates. Sozusagen für ihn wurde das erste Ministerium für öffentliche Arbeiten geschaffen. Kein anderer Parlamentarier hatte einen so großen Anteil an dem Gelingen des großen Reformwerkes, dem Zustandekommen des allgemeinen, gleichen Wahlrechtes. Außerordentlich waren auch die Leistungen dieses Mannes als Leiter seines Ministeriums. In meiner Erinnerung steht eine Feier im Grand Hotel, die festliche Begehung der Vereinigung der dreißig katholisch konservativen Abgeordneten mit den Christlichsozialen. Bei dieser Gelegenheit hielt der oberösterreichische Führer der zu den Christlichsozialen gestoßenen Konservativen, Dr. Alfred Ebenhoch, eine Rede, in der er mit dem Titel „König Arthurs Tafelrunde' die nun unter Dr. Karl Lueger vereinigte Führerschaft des deutschsprachigen christlichen Volkes in Oesterreich unter stürmischem Beifall bezeichnete.

Den Zusammenschluß der beiden Parteien, ein ganz eigenartiges Ereignis, das solcher Art in der österreichischen innerpolitischen Geschichte kein Vorbild und keinen Nachfolger hatte, leitete eine durchaus harmonische Entwicklung der neuen Einheit ein. Es hatte zwischen den katholisch Konservativen der Alpenländer und den Christlichsozialen in den vorausgegangenen Jahren manchen Strauß gegeben. Nichts dergleichen störte die neue Gemeinschaft, in der Männer wie Ebenhoch, Morsey und der steirische Bauernführer Hagenhofer eine erhöhte Bedeutung erlangten.

Nach raschem Aufstieg und stolzen Errungenschaften sind der Christlichsozialen Partei Rückschläge nicht erspart geblieben. Im Jahre 1911 erlitt sie namentlich auf Wiener Boden im Gefolge einer schweren inneren Krise einen empfindlichen Rückschlag. Im Jahre zuvor war Dr. Lueger gestorben. Mit ihm hatte diez Partei ihren Gründer und ihr Haupt verloren. In ihren Reihen fehlte in dem damaligen Wahlkampf die Einigkeit, die von Dr. Lueger mit seiner Autorität stets bewahrt worden war.

In ihrer Erstlingszeit waren in der Partei verschiedene Kräfte zusammengeflossen, jetzt glaubten so manche, nicht mehr an die Treue gebunden zu sein, und versuchten, ihre eigenen Wege zu gehen. Ihre Eigenbrötelei hat auf Wiener Boden für die Christlichsoziale Partei zwangsläufig die Niederlage von 1911 herbeigeführt. Als dann 1918 der staatliche Umsturz kam, die Zeit der Heimsuchung, da das Schicksal des alten Oesterreichs und seines Kaiserhauses besiegelt wurde, verhinderten die Männer des Christlichsozialen Klubs viel, was zu schwerem Nachteil Oesterreichs hätte werden müssen. Sie schufen die Voraussetzung für den Aufbau des kleinen, aus altem, natürlichem Gefüge gerissenen Oesterreichs von heute. .

1922 kamen jene furchtbaren Junitage, in denen einfach niemand mehr Rat wußte und in allen die Angst lebte, dieses Oesterreich sei nun verloren, und öffentlich behauptet wurde, Oesterreich sei als Staat überhaupt nicht lebensfähig. Damals ging die Frage durch alle Klubräume des Parlaments und durch Stadt und Land: Wer wird denn noch den Mut aufbringen, die Regierung zu übernehmen? Dr. Otto Bauer, der Führer der Sozialisten, war es, der in offener Haussitzung, auf Seipel deutend, rief: .Herr Dr. Seipel, Sie gehören von unten da herauf!“ Er zeigte auf den Platz des Bundeskanzlers. Der Klub hat diese Aufforderung aufgegriffen und Dr. Seipel wurde Bundeskanzler. Was sich um seine Tätigkeit, um seinen Namen rankt, das ist nichts Geringeres als was in der Begrüßung Seipels durch das Wiener Volk zum Ausdruck kam, als er von seinem außerordentlichen Erfolg, der von ihm und seinem Freunde und Mitarbeiter Dr. Viktor Kienböck erreichten Hilfeleistungen des Völkerbundes, zurückkehrte. .Retter Oesterreichs' ging der Ruf durch das ganze Land. Damals konnte man Seipels Staatsblick und seine politische Meisterschaft erkennen, als er die große Wendung mit seinem Sanierungswerk einleitete. Dr. Otto Bauer glaubte damals, die Lösung des österreichischen Problems in der Angliederung der österreichischen Krone an die deutsche Reichsmark finden zu können, und stellte seine Auffassung dem Rettungswerke Dr. Seipels gegenüber. Doch es dauerte nicht lange, bis die Markwährung zu-sammensank, tief unter das Niveau der österreichischen Krone, und es zeigte sich, daß, wenn Oesterreich sich auf Bauers Vorschlag an die Markwährung angeschlossen hätte, es verloren gewesen wäre. Dr. Seipel hat eine wirtschaftliche, finanzpolitische, aber auch eine außenpolitische und, trotz der gegenteiligen Behauptungen, eine nationale Tat ersten Ranges mit seinem Rettungswerk gesetzt. Er lebte seinem Werke nach mit einer Hingabe, die wir alle bewundert haben, und mit jener tiefen Sachkenntnis, die ihn in seinen Unternehmungen auszeichnete. Es kam dann für ihn, den Schwererkrankten, die Zeit, wo er spürte, daß er nicht mehr an der Spitze der Regierung stehen solle und andere die Last zu übernehmen hatten. Aus freiem Entschluß zog er sich 1929 zurück.“

‘ Die zeitgeschichtliche Darstellung bedarf hier einer Ergänzung, die durch die Bescheidenheit Kunschaks, ihres Verfassers, erforderlich wurde. Noch am Abend des 3. April 1929, an dem der Bundeskanzler Dr. Seipel seinen Rücktritt vom Amte erklärte, nahm zu dem Ereignis Leopold Kunschak in einer im ersten Wiener Bezirk gehaltenen Versammlung Stellung, indem er erklärte: „Was geschieht, wenn es beim Rücktritt des Kanzlers Seipel bleibt? Die Sozialdemokraten müssen jetzt Farbe bekennen und beweisen, ob sie dem Staate und der Volkswirtschaft und damit auch der Arbeiterschaft das geben oder das gewähren wollen, was sie zum Leben brauchen." Als Nachfolger Seipels kam Leopold Kunschak in Betracht, der aber ablehnte und im gegenwärtigen Augenblick eine möglichst wenig umstrittene Persönlichkeit als notwendig bezeichnete. Die Verhandlungen waren schwierig, aber es deutete sich schließlich die Wahrheit an, daß die sozialdemokratische Fraktion für eine Beteiligung an einer Arbeitsgemeinschaft zu gewinnen wäre, wenn Vaugoin als Heeresminister von den Christlichsozialen fallengelassen würde.

Vier Wochen lang zog sich die Krise hin, sie endete schließlich mit der Berufung Streeruwitz’ zum Bundeskanzler und dem Verbleiben Vaugoins in seinem großen Wirkungskreis. Der Linken war Carl Vaugoin unbequem. Seine Leistung für den Aufbau der kleinen Wehrmacht und sein wienerisches Wesen hatten ihn volkstümlich gemacht, aber die Opposition interessierte seine Leistung nicht, sie wollte ihn aus seinem Amte weghaben.

In den sorgenschweren zwanziger Jahren war es den Christlichsozialen beschieden gewesen, der Regierung den Kopf, dem Staate die Führung zu geben. Auch später immer wieder, wenn es hart auf hart ging, wurden aus den Reihen der Christlichsozialen Partei die Männer gefunden, die der Staat brauchte. Jetzt brachte die Kanzlerschaft Schobers eine Unterbrechung.

Nach einem kurzen Rückblick auf die Ministerien Dr. Ender und Dr. Buresch erinnerte Leopold Kunschak daran, daß Dr. Dollfuß, 1932 an die Spitze der Regierung berufen, damit die Aufgabe übernahm, gefahrendrohender Schwierigkeiten Herr zu werden, und es das Ergebnis seiner Politik war, daß die Lausanner Verträge schließlich zustande kamen; ohne sie hätte Oesterreich schweren Erschütterungen, sogar der Bedrohung seiner staatlichen Existenz nicht entgehen können.

So sind die Gedanken und die Kräfte, die um den Bestand Oesterreichs und das Wohl des österreichischen Volkes aufgeboten wurden, fast ausnahmslos aus den christlichsozialen Reihen gekommen. Ohne Christlichsozialen Klub, ohne die Mitarbeit christlichsozialer Volksbeauftragter, ohne Parlament — sagt besorgt an dieser Stelle Kunschak —, wird nun Dollfuß seinen Weg gehen müssen.

„Wir können“, schloß Kunschak seinen parteigeschichtlichen Rückblick, „in dieser Stunde nichts anderes tim, als zum Ausdruck bringen, daß dem Bundeskanzler auf seinem weiteren Wege unsere heißesten Wünsche begleiten und daß wir alle, wenn uns auch Mandat und Zugehörigkeit zu diesem Klub nicht mehr binden, freiwillig, wo immer es sein kann, den Bundeskanzler unterstützen werden. Die Dinge liegen so, daß der Kanzler der Mitwirkung jedes einzelnen nicht entraten kann. Verfassungsgesetze konstruiert man in den Ministerien und macht sie im Ministerrate. Aber dem Gefäß den Inhalt zu geben, die Verbundenheit der Verfassung mit der Volksseele herbeizuführen, das ist das große Problem, von dessen Lösung alles abhängt. Und dieses Problem kann nicht gelöst werden, wenn nicht bis ins letzte Dorf hinaus die Menschen diese Verfassung ganz verstehen und für sie einzutreten lernen. Dazu mitzuhelfen, wollen wir uns vornehmen und ausführen. Uns selber aber dürfen wir in dieser Stunde sagen: Eine ehrliche Gewissenserforschung läßt uns ersehen, daß der Christlichsoziale Klub zu allen Zeiten, von der Gründungszeit in der alten Monarchie, während des staatlichen Umsturzes und dann im neuen Oesterreich, unter den härtesten Verhältnissen das Seine ohne zu wanken getan hat. Unser Gewissen ist rein. Wir treten ab von unserem bisherigen Wirkungskreis in dem stolzen Bewußtsein treu erfüllter Pflicht.“

Die Stimmen sind späterhin nicht verstummt, welche in leidenschaftsloser Erwägung die aus einem Notstand geborene Ausschaltung des zuverlässigen und unersetzbaren Helfers der Staatsführung als schweren Fehler erkennen wollten.

Bundeskanzler Dollfuß, der nach dem Berichte Kunschaks sich erhob, richtete an den Klub und die Christlichsoziale Partei Dankesworte „im Namen des Vaterlands“, unter schwierigsten Verhältnissen habe die Christlichsoziale Partei ihre Pflicht für Land und Volk erfüllt. Wenn sie nicht gewesen wäre, dann würde es heute keine Vaterländische Front geben. Der Kanzler glaubte, anfügen zu dürfen: „Das, was in diesen Jahren lebendig geworden ist an vaterländischem Bewußtsein, hat in der Vaterländischen Front eine Form gefunden, wie wir sie in Oesterreich kaum jemals gesehen.“

Nicht leicht hätte man die geschichtlichen Zusammenhänge von christlichsozialer Bewegung und Vaterländischer Front eindrucksvoller feststellen können, als es hier Dollfuß mit dem Satze getan hatte: „Wenn die Christlichsoziale Partei nicht gewesen wäre, dann würde es heute keine Vaterländische Front geben.“ Der Satz hat auch für die Gegenwart noch gültigen Sinn.

Der offiziellen Klubsitzung folgte am Abend im Rathauskeller eine freundschaftliche Zusammenkunft, in der die alten Weg- und Kampfgenossen voneinander Abschied nahmen.

Als im September 1934 aus Anlaß der feierlichen Beisetzung der sterblichen Ueberreste Dr. Seipels und Dr. Dollfuß’ in der Seipel- Gedächtniskirche sich zahlreiche Mitglieder der christlichsozialen Bundesparteileitung zusammenfanden, lud sie Dr. Czermak für den 27. September zu einer Sitzung im Niederösterreichischen Landhaus ein, zu der auch Bundeskanzler Dr. Schuschnigg, die Minister Dr. Buresch und Reither sowie Bürgermeister Schmitz erschienen waren. Die eröffnete Aussprache befaßte sich mit der durch die neue Verfassung für die Christlichsoziale Partei entstandenen Lage, ein Gedankenaustausch, dessen funebres Ergebnis über Antrag Dr. Czermaks der formelle Beschluß war, die Tätigkeit der Christlichsozialen Partei einzustellen.

Die Archivalien der christlichsozialen parlamentarischen Vereinigungen wurden einem dreigliedrigen Ausschuß übergeben. Die Führung der Christlichsozialen Nachrichtenstelle wurde dem in Gründung begriffenen Verein „Christliche Pressezentrale" einverleibt. Mit Dank für ihre wenig erquickenden Bemühungen wurden Parteiobmann Dr. Czermak und Hofrat Doktor Kolassa, der Generalsekretär der Bundesparteileitung, der bisher mit den Liquidierungsarbeiten betraut war, von ihren Aemtern verabschiedet.

Das letzte Wort an die O Öffentlichkeit sprach die christlichsoziale Bundesparteileitung mit einer am 27. September 1934 veröffentlichten Kundmachung, in der sie noch einmal unverrückbare grundsätzliche Wegweisung an ihre bisherigen Parteimitglieder aussprach:

„Die Pflege der christlichen Weltanschauung und die Durchsetzung ihrer ‘ Grundsätze im 'öffentlichen Leben- obliegt den ! kulturellen Organisationen und der Katholischen Aktion. Die Bundesparteileitung empfiehlt daher den Mitgliedern der Christlichsozialen Partei, ihre Mitarbeit allen Verbänden zu widmen, die unter Ausschaltung politischer Betätigung die Zusammenfassung aller auf dem Boden der christlichen Weltanschauung stehenden Staatsbürger sowie die Erziehung der Jugend zum praktischen katholischen Leben zum Ziele haben In dankbarer Treue gedenkt die Bundesparteileitung der unvergeßlichen, um das Vaterland verdienten Führer der Christlichsozialen Partei, vor allem ihrer größten Männer, Dr. Lueger und Dr. Seipel, und der ungezählten selbstlosen Mitkämpfer, die seit Jahrzehnten im Sinn der Grundsätze der Partei tätig waren.“

Bundespräsident Miklas richtete an die Partei ein Abschiedswort, an dessen Spitze er die schöne Bezeugung stellte:

„Ich würde es als ein schweres Unrecht empfinden, wenn ich in diesem Augenblick nicht dankbar der hohen Verdienste gedächte, die sich die Christlichsoziale Partei seit ihrer Gründung durch fast eineinhalb Menschenalter um unser Vaterland, um das alte und das neue Oesterreich, erworben hat. Tief im deutschen Heimatvolk verwurzelt, war sie im politischen Leben Oesterreichs jahrzehntelang ein Vorkämpfer für christliche Weltanschauung und soziale Gerechtigkeit, in allem stets ein Bannerträger echten Oesterreichertums. Ohne daß dies anerkannt wurde, ist sie damit, besonders in schlimmen Lagen des Vaterlandes, die stärkste Stütze der Staatsführung gewesen.“

Nicht so bald hätten für eine andere Adresse die gleichen Sätze geprägt werden können.

Das Archiv des Klubs wurde dem letzten geschäftsführenden Bundesparteiobmann in Verwahrung gegeben.

1938 wurde das Archiv wie auch der übrige Besitz der Pressezentrale bei nationalsozialistischen Hausdurchsuchungen verschleppt. Zunächst wurden die archivalischen Bestände dem Archiv des Innenministeriums in der Wallner- straße einverleibt und von dort angeblich später in das Viertel ober dem Wienerwald gebracht.

Dr. Czermak hat als gewesener Liquidator 1945 die Leitung der OeVP in Kenntnis der verfügbaren Daten gesetzt.

Die Veröffentlichung wird fortgesetzt. Nächste Folge: „Im Februar 1934“.

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